Ripples

September 6th, 2024

Catherine Ribeiro – La Vie En Bref (R.I.P. 1941 – 2024)

 

 

Inmitten des Wiederveröffentlichung- Booms der letzten Jahre wurden vom New Yorker Hip Label Mexican Summer auch drei essentielle Alben aus den 1970ern Jahren von Catherine Ribeiro & Alpes wiederveröffentlicht, und das in opulenter Ausführung und Preis (die trotzdem in Windeseile vergriffen waren).
Um Catherine Ribeiro, die am 23.8.2024 in einem Pflegeheim in der nördlichen Provence starb, war es zuvor nach einem kurzen Revival in den 00er Jahren ruhig geworden. Der autobiographische Roman, an dem sie schrieb, wurde nicht mehr beendet, private (Tod des Ehemanns und der Tochter) und gesundheitliche Probleme zuvor trugen das Übrige bei.
Im Wikipedia-Eintrag steht neben dem Eintrag “aktive Zeit: 1963 – 2010” auch “Ideologie : anarchistisch” :
Für die Künstlerin stand “Freiheit” und vor allem auch die Verteidigung der eigenen inneren Freiheit über allem. Den Ruf, äußerst schwierig zu sein, erwirbt sie sich durch ihre leidenschaftliche Verteidigung der Rechte der Unterdrückten und Unterprivilegierten und dezidierten politischen Aussagen, und, ja, auch durch die sperrige Musik, die anarchistische Ideen mit avantgardistischer Musik in Gleichklang bringt. “Lasst der Kunst all ihre Schönheit und die Reinheit” ist zeitlebens ihr Motto.
Und so wird ihre Musik mit Alpes – im Gegensatz zu ihren späteren Alben mit Chansoninterpretationen – weiterhin von einer größeren Öffentlichkeit unentdeckt bleiben, dafür wird sie von einer jüngeren, nicht am Mainstream interessierten, Generation entdeckt.

Die Geschichte von Catherine Ribeiro beginnt 1941 inmitten des Zweiten Weltkriegs im Industriegürtel von Lyon, wo ihre Eltern, portugiesische Auswanderer, arbeiten und politisch der Kommunistischen Partei nahestehen. Ihre Mutter lehnt die früh erwachte künstlerische Neigung Catherines ab und reagiert mit Härte und Ablehnung. Die Traumata werden von Catherine in ihrem Buch über ihre Kindheit L’Enface (L’Archipel, 1999) zwar poetisch verschlüsselt, aber schonungslos beschrieben. Mehrere spätere Suizidversuche sind wohl auch in den Konflikten der Kindheit begründet.
Danach: Die Flucht nach Paris mit 19 Jahren, sie schreibt Gedichte und taucht ab in die Welt der großen Dichter, will Schriftstellerin werden. Sie muss aber auch ihren Lebensunterhalt verdienen, Rollen in Theaterstücken, und auch in Jean-Luc Godards “Die Karabinieri” und einigen anderen Filmen führen aber zu nichts. Das heißt, das stimmt nicht ganz. Sie lernt Patrice Moullet kennen, mit dem sie eine lange amouröse und künstlerische Liason in der Musik beginnt.
Mit der “yé yé-“ Welle, der französischen Interpretation des neuen Pop-Phänomens der Früh-1960er, das durch die Beatles ausgelöst wurde, versucht man sich zuerst mit Adaptionen von Folkstücken und aufgepeppten Chansons, bevor Moullet psychedelische Musik und sein Talent für das Bauen von eigenen Instrumenten – das “Percuphone” beispielsweise – und Klangtechniken entdeckt.

Es entsteht Musik, die so noch keine Vorläufer in der französischen experimentellen Musik hat. Elektronische, halluzinierende und hypnotische Klangteppiche kombiniert mit Free Folk, die die Grundlage für Catherine Ribeiros Gesang bilden. Im Laufe der Alben entfernt man sich auch immer mehr von der klassischen Songform, obwohl die Texte die Essenz bleiben. Die komplexen Strukturen der Songs lassen Vergleiche mit der unkonventionellen Prog-Band Van der Graaf Generator und ihrem ähnlich stimmlich ausdrucksstarken und die Grenzen überschreitenden Mastermind Peter Hammill zu.
Themen wie Suizid, Einsamkeit, Unterdrückung, poilitische Konflikte; teils poetisch verschlüsselt, teils konfrontativ sind das eine, die Stimme Catherine Ribeiros aber das eigentlich Sensationelle:
“ Eine großartite Stimme: Stimme der Hoffnung, der Verzweiflung, der Geburt und der Agonie, des Hasses und der Liebe, eine Stimme des Herzens und des Sex, eine Stimme des Wimmerns und des Schreiens, eine magische Stimme mit den Wörtern, die sie ausspricht, eine Stimme, die aus den Eingeweiden kommt und direkt in die Eingeweide derjenigen trifft, die sie hören,”
so überschwänglich schwärmt der Musikjournalist Etienne Blondet 1975.

Die Platten von Catherine Ribeiro & Alpes aus den 1970ern Jahren stehen als einzigartiges Zeugnis für die heute undenkbare Verbindung von wegweisender experimenteller Musik, politischem Engagement und sehr persönlichen und introspektiven Lyrics.
Auch ebnen sie den Weg für einheimische Musiker, zum Beispiel aus dem Rock In Opposition – Umkreis wie Etron Fou Leloublan oder Albert Marcoeur, aber auch für von der “reinen Lehre” abkommende Chansonsängerinnen wie Brigitte Fontaine, die Songs oder den Chanson in eine freiere, experimentelle Richtung weiterentwickeln.

 

Siehe auch :

https://www.mikro-wellen.net/wordpress/frankreich/

Ripples

March 17th, 2024

Outfest 2023 – Festival Internacional de Música Exploratória do Barreiro

 

Zum neunzehnten Mal ist die nicht mehr ganz aber doch noch weitgehend ungentrifizierte ehemalige Industrie- und Arbeiterstadt Barreiro für vier Tage im Oktober Zentrum für ein unkonventionelles, in alle Richtungen offenes Musikprogramm, veranstaltet vom Out.Ra – Kollektiv.
Neue Musik (- Pioniere), experimentelle Elektronik, Afro-Jazz, alternativer Hip Hop, Dub und sogar Black Metal; vieles ist hier möglich. Traditionell liegt der Schwerpunkt auf dem einheimischen Musikschaffen, auch mit der Absicht, Kontakte untereinander herzustellen oder zu vertiefen.
Out.ra (“das Andere”) ist der Trägerverein, der unter dem Direktor Rui Pedro Damasio neben dem Outfest im Oktober auch das experimentelle Filmmusikfestival Sónica Ekrano und zahlreiche Einzelveranstaltungen an oft sehr aussergewöhnlichen Stätten der post-industriellen Überbleibseln in Barreiro veranstaltet. Den Weg über den Fluss zu den Konzerten finden natürlich auch die in der Metropolis lebenden, an ungewöhnlichen Klängen Interessierten Beim Festival trifft man aber auch sympathischerweise auf neugierige Einwohner, die ansonsten nicht soviel am Hut mit schrägen Klängen haben dürften.
Nach der Pandemie ist das Geld noch knapper als gewohnt und die Zahl der Sponsoren für Musik, die sich gewöhnlich unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit ansiedelt, ist überschaubar. Das tut dem Geist des Festivals allerdings keinen Abbruch und der charmnante und familiäre Charakter hebt sich von vielen anderen, schon kommerziell durchgetakteten Veranstaltungen wie Le Guess Who? oder Moers wohltuend ab.

Die Ateliers der Pada Studios sind inmitten des inzwischen teilweise unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Fabrikgeländes und der Arbeitersiedlung der Companhia União Fabril (CUF) situiert und bieten Künstlern eine inspirierende Umgebung, um Projekte entwickeln und realisieren zu können.
Unweit des Mausoleums des Gründervaters und industriellen Pioniers Alfredo Da Silva, der 1944 starb und mit seinen Unternehmungen Barreiro zum wichtigsten Indstriestandort Portugals machte, berfinden sich die besagten Wohnhäuser der Fabrikarbeiter, die heute unter dem Namen Baia Do Tejo weitere Ateliers, Musikräume und Kunstwerkstätten beherbergen. In einem Teil der Fabrikanlagen wird immer noch gearbeitet, aber die Zeit als hier Seifen, Kerzen, Pflanzenöle, Textilien, Tabak und anderes hergestellt und verarbeitet wurde sind definitiv vorbei. Die CUF existiert immer noch, allerdings als eine Kette für Privatkliniken.
Nach Sonnenuntergang verliere ich mich beinahe im riesigen Arreal, die dampfenden Schlote und die gespenstische Beleuchtung der noch fungierenden Textil-Fabrik weisen mir und anderen Herumirrenden aber dann doch den Weg.
Mit Mitgliedern aus den städtischen Musikschulen entwickelte der Neue Musik Pionier Alvin Curran für das abendliche Eröffnungskonzert in den Pada Studios eine neue Version eines seiner zentralen Stücke – Beams. Das anarchistische Gen des Freigeistes unter der Komponistenschar, die in den 1960er Jahren, die zeitgenössische klassische Musik auf den Kopf zu stellen versuchte, ist auch mit über achzig Jahren Lebensalter weiterhin intakt. Das Ensemble Musica Elettronica Viva sorgt in den 1960ern Jahren mit ihrer radikalen Auffassung, wie Musik zur Zeit klingen sollte, sogar für Tumulte. Später, als Curran sich in Rom niedergelassen hat, komponiert er stetig Stücke für Kammermusik bis zu grossen Ensembles, Stücke für das Radio wie für einzelne Instrumente. Curran experimentiert mit aussergewöhnlichen Tonquellen, Stimmen und neuen Technologien, und das oft mit einem in den elitären Kreisen verpönten Augenzwinkern.
Die in der Gallerie sich örtlich immer wieder neu verteilenden Musiker spielen neben tönenden Objekten wie z.B. Muscheln meist akustische- und Blasinstrumente und werden von Curran, der am Tisch stehend dem Midi-Keyboard und Computer Erstaunliches entlockt, bei dieser strukturierten Improvisation sachte dirigiert.

Ein gelungener Auftakt. Die Nachtstunden kann man dann im benachbarten A 4 verlängern; mit Rojin Sharafis strengen elektro-akustischen Exkursionen, die auch direkter Ausdruck der in Wien ansässigen Musikerin auf die Represalien sind, denen kritisch denkende Menschen in ihrem Heimatland Iran ausgesetzt sind, und dem in Lissabons Underground Musikszene nicht wegzudenkende Zé Moura und seinem luftigen Gebräu aus Dub, House und Noise.
Introspektiveres gibt es am darauffolgenden Nachmittag in der beeindruckenden Kirche Nossa Senhora do Rosário hören. Tiago Sousa präsentiert auf der Orgel und dem Piano die Premiere eines weiteren Stückes seiner Organic Music Tapes Serie. Zwischen Formen der Avantgarde und minimalistischen Anleihen angelegt, lässt es sich in diesem Ambiente tief in die Musik Sousas eintauchen. Die Schottin Brighde Chaimbeul ist derzeit auf vielen Festivals mit experimenteller Musik zu hören und ihr Stamminstrument – der Dudelsack – befreit sich durch ihre Kunst vom Image des Volkstümlichen. Chaimbeul bedient den scheinbar endlosen Kosmos des Obertönespektrums ganz vorbildlich.

Beim Outfest steht man permanent vor dem Luxusproblem, sich zwischen zeitlich parallel laufenden Konzerten zu entscheiden oder die Aufmerksamkeitsspanne drängt nach einer Pause. Ins Gasoline am Nachmittag, wo Leonor Arnaut & Ricardo Martins, XIII und NZE NZE ihr Repertoire zwischen Post-Punk und Improvisation offerieren, schaffe ich es nicht, aber die Veteranen abends im Klub Os Penicheiros – Sven – Ake Johansson & Jan Jelinek und dem Free Jazz Afro – Rock des Nok Cultural Ensembles aus dem Sons Of Kemet – Umfeld sind mehr als ein Ersatz, da sie die experimentelle Musik in selten oder noch gar nicht gehörte Richtungen weiterführten, Jazz – Drums gepaart mit elektronischen Drones bzw. Free Jazz Ethno-Dub.
Die finnisch-luxemburgerische Künstlerin mit italienscher Abstammung Maria Rossi veröffentlichte unter ihrem Künstlerprojekt Cucina Povera schon einige Alben auf unterschiedlichen Labels und bewegt sich mit ihren Einflüssen aus experimentellem Folk, verfremdetem Gesang und komprimierter Elektronik nah am Label-Raster von Fonal oder Kraak. In der Igreja de Santa Cruz verströmt sie mit ihren rituell wirkenden Acapella- Folksongs, über die nach und nach Schichten aus dem Echo ihrer Stimme und elekronisch – gerierte Drones legt pure Magie.

 


Die slovenische neo-folk Band Sirom und die Fusion-Band Horse Lords lassen am Abend den diesjährigen Hauptveranstaltungsort ADAO zur Tanzfläche metamorphosieren.
Am Samstag laufen dann wieder drei Konzertblocks zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten in Barreiro.
Die Biblioteca Municipal ist aber sicherlich eine sehr gute Wahl. Noa Kurzweil aka Voice Actor gibt eine Art Best- Of ihres unglaublichen Albums Sent From My Telephone. Hinter einem transparenten Vorhang, auf dem vage Bilder und Clips projeziert werden, steht sie am Tisch mit ihrem Computer und spricht und “singsangt” in einer beinahe unbeteiligt wirkenden Alltagsstimme. Aber, ihre Songs stellen eine geniale Spiegelung der hyperdigitalen Welt von heute mit ihren oft sinnlosen Voice Mails, Playlists und endlosen ins Leere laufenden Kommunikationsformen in verschieden Sprachen dar. Unglaublich ist ihr Album auch schon alleine aufgrund der Länge: viereinhalb Stunden und 109 Songs, die wie ein fiktives tönendes Tagebuch klingen, das man in ein Mixtape transferiert hat.
Die Musik zitiert scheinbar ähnlich eklektisch dezent im Hintergrund angelegte ambiente Klanglandschaften, Hip Hop, dubbige, narkotische Beats, Popelemente, die idiosynkratische Szene um Space Afrika, Mica Levi, Tirzah und vieles mehr.
Ravenna Escaleira spielt anschießend einen Solo – Saxophon-Set. Street Art, Poetry, bildende Künste, Aufenthalte in Brasilien, Spanien und Italien sowie das Musikmachen in den Straßen diverser Metropolen schliffen ihr künstlerisches Profil; die intensiven dreißig Minuten ihres Auftritts beinhalten alle Gefühlszustände, die man mit einem Instrument ausdrücken kann.
Joana de Sá hat zwei sehr gute Alben auf dem portuenser Sirr-Label veröffentlicht und zeigt in der Bibliothek live wie sie ihre Stücke mit Gitarre und Synthieloops, die meist sehr leise an der Hörschwelle beginnen und sich nach und nach aufbauen, verdichten und dramatisch entwickeln. Ihre Songs beziehen sich auf Orte oder Musik, die sie berührt und einen emotionalen Eindruck hinterlassen haben und die sie in ihre eigene Musikästhetik übersetzt.
Wieder im ADAO beginnt der Abend mit einem Konzert von Rita Silva, die seit einiger Zeit am Institute of Sonology in Den Haag studiert. Ursprünglich inspiriert von Pionierinnen wie Delia Derbyshire und Laurie Spiegel entwickelt sie – nachzuhören auf zwei empfehlenswerten Tapes – ihre eigene Handschrift. Mit modularen Synthesizern spielt sie eine sich stetig verändernde organische psychoakustische Musik, die auf geniale Weise Kopf und Körper miteinander vereint.

Holy TongueValentina Magaletti, Susumu Mukai, Al Wootton – amagalmisieren dann auf der großen Bühne (mit offenem Scheunentor im Rücken des Publikums) fünfzig Jahre britsche Undergroundmusik. Über das prägnante Rhythmusgerüst von Magaletti und Mukai, das man ansonsten so hypnotisch und aufeinander eingespielt vielleicht nur so in der Blütezeit von Can hören konnte, setzt Al Wootton die melodischen wie disharmonischen Spitzen: On-U-Sound, rituelle, oszillierende Beats aka 23 Skidoo, Rough Trade-Ästetik und vieles mehr meint man hier herauszuzhören und erneut fusionieren Intellekt und Körper bei der Musik von Holy Tongue zu einer Einheit.
Wie es noch eines Beweises bedurft hätte, was den eklektischen Geschmack des Veranstalterteams anbelangt, übernehmen danach die alternativen Black Metaller von Liturgy um die Gitarristin und Sängerin Haela Hunt-Hendrix die Bühnenhoheit. Ein wenig wie die Doom-Götter Sunn >>> experimentierte die Band in den letzten Jahren mit verschiedenen Einflüssen, die von der “reinen Lehre” des Black Metal-Kanons abweichten. Elektronische Elemente, chorale- und orchestrale Passagen zwischen die Noise-Gewitter eingeflochten und auch die NYC-Lower East Side – Historie von Bands und Musikern wie Sonic Youth, Glenn Branca oder Rhys Chatham zitierend, macht die die Band auch für ein avantgardistisch ausgerichtetes Publikum interessant.

 

 

best of 2023

January 5th, 2024

Music

Tara Clerkin Trio – On The Turning Ground


 

Voice Actor – Fake Sleep


 

Tirzah – trip9love…???


 

eyedress – Let’s Skip to the Wedding


 

Various – Gespensterland


 

Madvillain – Madvillainy


 

Slowdive – Everything Is Alive


 

Bar Italia – Tracey Denim


 

Pere Ubu – Trouble On Big Beat Street


 

Doja Cat – Scarlet


 

Cloth – Secret Measure


 

Teresa Winter – Prosperine


 

Marina Satti – Yenna


 

Gina Birch – I Play My Bass Loud


 

Rita Silva – The Inflationary Epoch


 

SZA – SOS


 

Fiesta En El Vacío – Fiesta En El Vacío


 

Aksak Maboul – Une Aventure De VV


 

Nídia – 95 Mindjeres


 

Kali Malone – Live @ Subset Festival Athens


 

Xexa – Vibrações de Prata


 

Paul Rooney – Surface Industries II


 

Philip Jeck & Chris Watson – Oxmardyke


 

Esben & The Witch – Hold Sacred


 

TSVI (Anunaku) – Stella Remota


 

Marlene Ribeiro – Toquei No Sol


Bear Bones, Laylow – Ideas Flotantes


 

The Cleaners From Venus – Kassetten 1981 – 1992


 

Claire M Singer – Saor


 

Clientele – I Am Not There Anymore


 

Film/TV

Kristoffer Borgli – Dream Scenario


 

Lee Sung Jin – Beef


 

Retrospektive – Maurice Pialat


 

Hiroshi Shimizu – Sound of the Mist


 

Henk Handloegten, Tom Tykwer & Achim von Borries – Babylon Berlin S5


 

William Friedkin – To Live and Die in L.A.


 

Ronan Bennett – Top Boy S5


 

 Aki Kaurismäki – Fallen Leaves


 

Davy Chou – Retour à Séoul


 

 Nicolas Roeg – Walkabout


 

Ali Abbasi – Holy Spider


 

Zal Batmanglij & Brit Marling – A Murder at the End of the World


 

Alice Rohrwacher – La Chimera


 

Peter Bogdanovich – What’s up, Doc?


 

Thomas Cailley – The Animal Kingdom


 

Werner Herzog – Nomad, In the footsteps of Bruce Chatwin


 

Books

Cathi Unsworth – Season Of The Witch


 

Gustave Flaubert – Madame Bovary


 

Deborah Levy – August Blue


 

 Thurston Moore – Sonic Life


 

James Corbett– The Outsiders


 

Roberto Bolaño – Die Wilden Detektive


 

Georg Büchner – Gesamtwerk


 

Sarah Waters – Fingersmith


 

Alan Warner – Kitchenly 434


 

Alvaro Siza – Piscina Na Praia de Leça de Palmeira


 

 Barbara Klemm – Frankfurt


 

Ursula K. Le Guin – No time to spare


 

 

Ripples

December 9th, 2023

Winter Of Discontent:
Bob Stanley/Pete Wiggs – Winter Of Discontent
Gina Birch – I Play My Bass Loud
The Memorials – Music For Film: Tramps! / Women Against The Bomb
Cathi Unsworth – Season Of The Witch

 

Der Begriff “Winter Of Discontent” fasst die Unruhen in Großbritannien in verschiedenen urbanen Brennpunkten und die massiven Streikwellen Ende der 1970er Jahre – genauer von November 1978 – Februar 1979 – und die zunehmend prekären wirtschaftlichen Verhältnisse eines Landes im Niedergang zusammen. Schließlich führte dies zum Fall der Regierung von James Callaghan und dem Wahlsieg von Margaret Thatcher am 3. Mai 1979. Von den Yellow Papers genüsslich ausgeschlachtet, konnte man Horrorgeschichten von im Müll versinkenden Städten bis zu nicht bestatteten Leichen aufgrund der Arbeitsniederlegung in verschiedenen Branchen lesen.
Außerdem sorgten die klimatischen Verhältnisse in diesem besonders kalten Winter für weiteres Unbehagen. Die Labour-Regierung befand sich in einem Dilemma:
Den von den Gewerkschaften geforderten Lohnerhöhungen konnte nur teilweise nachgegeben werden, da gleichzeitig in Inflation in astronomische Höhen kletterte. Das Land hatte jedenfalls jede Menge Probleme außer nicht abgeholten Müllsäcken.
Aus (Sub-) kultureller Sicht waren die Mitt- bis Endsiebziger dagegen eine wahre Blütezeit der Nonkonformität.
Die Initialzündung von Punk fand schon 1976 durch Malcom McLarens geschickte Inszenierung der Sex Pistols – ausgestattet mit schrägen Klamotten aus der mit Vivian Westwood betriebenen Boutique SEX in Chelseas Kings Road, exzentrischen Haarschnitten, scheinbar rüdem Auftreten und mit einem kulturtheoretischen Überbau aus situanistischen und (salon-) marxistischen Ideen gepimpt. Nachdem sich das gemeine Volk von den Beleidigungen bzw. Infragestellen des Königshauses und der verbalen Eskalation in einer reaktionären Talkshow (Where Is Bill Grundy now? sangen die TV Personalties dann später auf ihrer Debut-Single) irgendwie erholt hatte und sich an die bunten Gestalten im Straßenbild der Großstädte gewöhnt hatte, hatte der Punk-Urschrei für die junge, kulturinteressiere Generation in jedem Fall den Effekt, dass nun jeder, der etwas zu sagen hatte, dies sich auch traute zu tun, im zweifelsfall auf einer Bühne.
Und die musikalischen Ideen aus dem Wohnzimmer konnte man durch die plötzlich entstehende und florierende Infrastruktur auf Schallplatte pressen, das Cover gestalten und das Produkt selbst oder in den spezialisiereten Läden vertickern.
Nachdem Punk endgültig verpufft war, fing der Spaß erst richtig an, wie die Masterminds von Saint Etienne Bob Stanley und Pete Wiggs in den Linernotes der dem Thema gewidmeten Kompilation, einem weiteren Höhepunkt ihrer sich diversen obskuren Musikrichtungen der britischen Kultur widmenden Albumserie schreiben.
Margaret Thatchers viel zitierte Aussage -There’s No Such Thing As Society -, darauf gemünzt den Gemeinschaftssinn und die Solidarität der Gesellschaft lächerlich zu machen und die rücksichtslose Individualität und Privatisierung als das neue Credo zu verkünden, führte ironischerweise in der Subkultur zu merkwürdigen Blüten. Das für ein bis zwei Jahre zugestandende Fördergeld für neu gegründete Self Made-Unternehmen wurde von Labels wie Alan Jenkins Cordelia Records oder Yukio Yungs Hamster Records kurzerhand dafür eingesetzt, die obskursten der obskuren Untergrundmusiker auf Schallplatte zu pressen.
Bob Stanley / Pete Wiggs present Winter Of Discontent versammelt hier aber einige der absoluten musikalischen Perlen der DIY-Kultur, die als Kontrast zu den grauen Endsiebzigern farbenfroh schillern. Einge der Singles wie King And Country von Dan Treacy’s TV Personalities, Fairytale In The Supermarket von The Raincoats, Work von The Blue Orchids, Scitte Politti oder The Mekons gehören inzwischen zum Kanon des Post-Punks. Andere, nicht minder wichtige aber unbekannt gebliebene Bands gibt es (wieder) zu entdecken. Die meisten Projekte waren rein privater Natur und die in Eigenregie produzierten Singles hätten ohne das offene Ohr für besondere Klänge von John Peel und der Schirmherrschaft des Rough Trade Ladens in der Londoner Talbot Road nie außerhalb des eigenen Freundeskreis Gehör gefunden.
Bandnamen wie The Red Pullover, Human Cabbages, Thin Yoghurts, Fatal Microbes oder The Gynaecologists zeugen von einem latent bis manifesten DADA-Gen, während die Musik dagegen sehr britisch, Art-School-geprägt und das enge Korsett von Punk in alle möglichen Richtungen ausweitend, Perspektiven für eine in die Zukunft gerichtete Musik versprach.
Ab 1981 schien sich aber die neue Freiheit wieder zu verlieren, Bands lösten sich wieder auf, drifteten in den Mainstream und neue subkulturelle Bewegunbgen (New Romantics, Dance Music) ab.

 

Gina Birch hat sich als eine der wenigen Urgesteine der frühen Rough Trade-Schule deren Aufbruchsgeist bewahrt und nebenbei den “Winter Of Discontent” selbst aktiv erlebt. Von der ersten Single mit den Raincoats bis zu I Play My Bass Loud sind über vier Jahrzehnte ins Land gegangen und doch ist dies ihr erstes Solo-Album. Musik ist für Birch eben nur eine von vielen Möglichkeiten sich auszudrücken; Malen und Filmen sind ebenbürtige Leidenschaften.
I Play My Bass Loud klingt einerseits so wie die Zeit stehen geblieben wäre und durch die sparsame, spröde Instrumentierung doch auch zeitgemäß und aktuell.
Verschrobene Rocker und noch windschiefere Balladen, Dub und Reggae, Krawall und Introspektion reichen sich die Hand und Gina lässt dem geneigten Hörer die Illusion, dass die Vision einer aktiven Counter-Culture-Szene (und nicht Cancel Culture) immer noch existiert.
Prima Platte!
In Brighton haben sich Ex-Electrelane Mastermind Verity Susman und der Wire-Gitarrist Matthew Simms gefunden, um nun als The Memorials in Zusammenarbeit mit progressiven Filmdirektoren all ihre musikalischen Vorlieben und Exzentritäten in die Form von Soundtracks fließen zu lassen.

 

Die schöne Doppel-LP Music For Film beinhaltet einerseits die Musik für die Dokumentation Tramps! von Kevin Hegge, der ehemalige Protagonisten der New Romantic Szene der 1980er interviewt (und Film- und Fotomaterial von damals gegenschneidet. Die Outfits in dieser Vor-Aids-Zeit können aus heutiger Sicht eher als Proto-Drag und Art-Statement als reine Popmusikbewegung durchgehen.
Susman und Sims komponierten für den Film weniger die vermutbaren Synthiepopsongs, sondern abstraktere, düstere Klanglandschaften à la Cabaret Voltaire oder Dome.
Women Against The Bomb von Sonia Gonazales ist der andere Dokumentarfilm, für die The Memorials die Musik geschrieben haben. Der Film erzählt die Geschichte des Peace Camps von Greenham Common, das 1981 von Frauen als Protest gegen die Stationierung von Nuklearwaffen ins Leben gerufen wurde. Musik hatte als Begleitung für die Proteste einen wichtigen Stellenwert. Tatsächlich dort gesungene und imaginäre Songs, kombiniert mit Zitaren der alternativen Musik von damals – New Wave, Noise, Krautrock und Gitarrenpop – lassen die Musik authentisch und gleichzeitig in der jetzigen Zeit verankert klingen. Susman und Sims beweisen sich als wahre Meister ihres Fachs, was sie auch live wie bei einem Konzert vergangenen Oktober in der Lisabonner Music Box zeigen (sieh Foto), als das Duo ihre Songs zwischen Indie-Pop und Avantgarde mit einer Vielzahl Instrumenten (und einigen vorgefertigten Computerspuren) auf die Bühne brachten und eine Spur Magie verbreiteten.

 

Die ehemalige Sounds-Schreiberin Cathi Unsworth hat sich in den letzten Jahren einen hervorragenden Ruf als Autorin für düstere Noir-Kriminalromnane erschrieben; ihre ursprüngliche Leidenschaft – die Musik – aber keinesfalls vergessen (z.B. die ausgezeichnete Biographie über die Punk – und Modepionierin Jordan, die im Umfeld von McLarens und Westwoods Sex/Seditionaries – Shop, den Sex Pistols und später bei den ersten Filmen von Derek Jarman einen großen Einfluss hatte)
Season Of The Witch beleuchtet aus eigener Erfahrung den, nicht nur musikalischen Hintergrund von Goth. Auch hier kann man den Ursprung und die Initialzündung auf den Winter of Discontent und Thatchers radikale Umformung Großbritanniens in den 1980ern zurückführen. Siouxsie & The Banshees, Joy Division, The Cure und Magazine waren die ersten, die einen Weg fanden die Dissonanz und die in der Luft liegende Düsternis des Jahrzehntewechsels in ihrer Musik auszudrücken. Viele andere folgten:
Aus erster Hand und eigenen Erfahrungen durch Interviews usw. schöpfend, lernt man den Werdegang auch von erst später dem Genre zugerechneten Bands und Musikern wie Bauhaus, Killing Joke, The Cramps, Lydia Lunch, Foetus, These Immortal Souls, Birthday Party, Diamanda Galas, Einstürzende Neubauten, Cocteau Twins und vielen anderen kennen; im Hintergrund spielen dabei immer die sozialen und weltpoltischen Spannungen einer Welt, die scheinbar vor dem Abgrund und der nuklearen Apocalypse stand.

 

 

 

Daphne X – The Plumb Sutra
Drew Mulholland – Through The Glass Darkly
Drew Mulholland – CP1919
Fiesta En El Vacio – Fiesta En El Vacio
Le Diable Dégoutant – Dito
Enhet För Fri Musik – Inom Dig, Inom Mig
DEK – 1981-87 Vol.1
Me Lost Me – RPG

 

Wien und Linz dienen als temporäre Ausgangsbasen für die griechische Musikerin und Soundartistin Daphne X (Xanthopoulou), die live bei diversen experimentellen Musikfestivals in letzter Zeit zu sehen und hören war und dessen ausgezeichnetes Tape The Plumb Sutra auf dem Londoner Label Bezirk Tapes (das klingt zweifelsohne auch nach einer österreichischen Verbindung) erschien.
Die Songs für das Album entstanden im beinahe gänzlich entvölkerten galizischen Hinterland und spiegeln mit – gefühlt –
bis in die Unendlichkeit sich wiederholenden Piano-und Synthie-Loops, elektronischen Verfremdungen und Natur- und Gesprächs-Aufnahmen die Atmosphäre wider. Daphne X zieht in ihren Kompositionen einerseits Parallelen zu Pauline Oliveiros Deep Listening Musikphilosphie, aber fühlt sich auch von Neo-heidnischen Folksongs inspiriert. Wäre The Plumb Sutra allerdings nur die Suche nach einer esoterischen Grenzerfahrung, klänge das nicht weiter erwähnenswert. Durch Brechung und Montage schafft Xanthopoulou aber eine nicht leicht entwirrbare, unheimliche Grundstimmung, die durch eine spröde Punkästhetik befeuert, an die geheimnisvollen, post-industriellen Musiklandschaften von Zoviet France anknüpft und den Songs eine besondere Tiefe gibt.

In Glasgow verschrieb sich Drew Mullholland mit seiner Musik schon immer dem Überweltlichen und Nicht-Eindeutig -Erklärbaren dieser oder anderen Welt(en), und das meist mit einem im Post-Industrial-Genre unüblichen Augenzwinkern. The Séance At Hobs Lane, Mulhollands Kollaboration mit Musikern aus der Glasgower Szene und Adrian Utley als Mount Vernon Arts Lab gilt zum Beispiel zurecht als Meilenstein und Referenz für die Library Music – Protagonisten und Hauntology. “…The forthcoming end of the world will be hastened by the construction of underground railways burrowing into infernal regions and thereby disturbing the Devil.” (Rev. John Cumming, 1860) liest es sich auf dem Cover, des dann auch folgerichtig auf Ghost Box – Records erschienenen Albums. The Norwood Variations ist dagegen eine eklektische Mischung aus Kammermusik und einem Spoken Word- Vortrag über Psychogeographie; The Warminster UFO Flap macht diverse UFO-Sichtungen und scheinbar wahrgenommene Audio-Signale aus dem Weltraum um Salisbury herum zum Thema für eine andere Kultplatte.
Spezielle Plätze, an denen Unerklärliches geschehen sein mag oder Personen, denen solches widerfahren ist, sind oft der auslösende Impuls für Drew Mulholland, sich dem intensiver künstlerisch zu widmen.
So auch bei den beiden diesen Sommer erschienenen Tapes auf dem jungen, sehr empfehlenswerten britischen Label Human Geography: Through The Glass Darkly und CP1919.

John Dee wurde 1527 in London geboren und war so intelligent, dass er als 20-jähriger neben umfassenden Kenntnissen der Astrologie, Astronomie, Mathematik und Navigation auch Griechisch, Latein und Hebräisch beherrschte. Er wurde nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund seiner voluminösen Bibliothek mit okkulten Büchern zum Außenseiter. Er fühlte sich mit seinem Wissen befähigt mithilfe eines zweitausendjahre alten obsidischen reflektierenden Glas/Steins/Spiegels, das heute im Britischen Museum ausgestellt ist, direkt mit Gott und Engeln zu kommunizieren.
Während seiner Zeit als Composer in Residence an der Schule für Astrophysik an der Universität von Glasgow wurden Mulholland selbstverständlich auch einige seltsamen Ereignisse zugetragen : Ein von Jocelyn Bell 1967 am Mullard Radio Astronomy Observatory registriertes, alle 1377 Sekunden auftauchendes, nicht erklärbares Signal oder die kosmische Mikrowellen Raditation, die 1964 von zwei Astronomen in New Jersey als Töne wahrgenommen wurden und letzlich auch die Big Bang-Theorie bekräftigen.
Die Musik: Wie zäh dahinfließende, grau-schwarz-schillernde Magma tönen im übertragenden Sinn die Tape Loops und Drones, die Drew Mulholland für die beiden Tapes komponierte. Schon als Zwölfjähriger, wie er in den Linernotes zu The Norwood Variations schreibt, habe er mit einem Freund mit Loops experimentiert. Das Rohmaterial stammte aus Field Recordings, die in vergessenen Bunkern aus der Kriegszeit, verlassenen Industrierelikten oder neben Bahnlinien aufgenommen wurden. Die Fragmente der Industriellen Revolution dienen Mulholland als Gestaltungsmittel für eine kosmische Musik, die hier nichts Befreiendes oder Schwebendes innehat, geschweige denn kitschige Synthesizersounds, sondern ganz spröde nur dunkle Geheimnisse verspricht.
Musik als Hommage für die Visionäre aus einer Zeit, in der die Wissenschaft auch ein Lauschen in die unendlichen Weiten der nächtlichen Himmel mit abenteuerlichen Gerätschaften bedeuten konnte.

Luna Cedrón berief sich bei der Namensgebung für ihr Projekt im musikalischen Metier auf ein Gedicht der argentinischen Dichterin Alejandra Pizarnik, die ähnlich wie Sylvia Path mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte und schließlich Suizid beging, aber in ihrem Werk eher Schönheit und Klarheit als Verzweiflung in Worte fassen konnte: Fiesta En El Vacio (Party in der Leere).

Cedrón wurde in Spanien geboren, lebte dann aber mit ihrer ruhelosen Mutter in Südfrankfreich, in Mexiko, Argentinien, Kuba und ist zwischenzeitlich in Brüssel gelandet, wo sie mit der hyperaktiven musikalischen Außenseiterszene partizipierte und auch einen bleibenden Eindruck beim letzten Kraak-Festival vor dem Covid-Lockdown 2020 hinterließ. Ihre home-made Popsongs, die sie für ihr Debut-Album für das französische Label Simple Music Experience aufnahm, huldigen dem Geist der Wohnzimmerproduktion, kleiden ihre Affinitäten – Gedichte, Synthie-Pop, Flamenco, okzitanische Folksongs in leicht melancholische, experimentelle und stilistisch abwechslungsreiche Popsongs mit einem leichten Cold Wave-Flair, die trotz aller Subtilität eine ungemein suggestive Wirkung entfalten.

Pauline Marx, die eine Hälfte des Duos La Fureur De Vouivre, verfolgt auf ihrem Debut-Solo-Album Fleur De Chagrin als Le Diable Degoutant ihrer ganz eigenen Version von “Hauntology” made in France. Die studierte Ethnologin und Feldforscherin vergräbt sich in alte Mythen aus Frankreich, Island und Irland; interpretiert überlieferte Balladen in vergessen gegangenen Sprachen mit seltsamen Instrumenten. Wie auch die Mikroszene aus dem Nürnberger Raum um Läuten der Seele, dem Gespensterland-Sampler oder Baldruin entsteht eine nicht wirklich einzuordnende Musik, die ein geheimnisvoller Zauber umrankt und zwischen Drones und Folk balanciert, aber auch, vielleicht unbewusst, die Tradition von legendären, der Art Bruit – zugewandten Bands wie Look De Bouk oder Klimperei weiterführt.

 

Die schwedische Formation Ehnet För Fri Musik, die sich aus Mitgliedern von verschiedenen jungen Undergroundbands zusammengefunden hat, versprüht auf Inom Dig Inom Mig keinen dementsprechend juvenilen Elan, sondern wirkt wie sie die letzten europäischen Benzodiazepin-Bestände gehamstert und konsumiert hätte, nur um dann in den Hobbykeller der Eltern hinabzusteigen und sich einem Freak-Out der anderen Art hinzugeben. Auf leisesten Sohlen wird mit Saxophon, Bass, Keyboards improvisiert. Darüber legt sich hin-und wieder die zwischen unbeteiligt und traurig wirkende Stimme der Sängerin, die die Gabe hat, den geneigten Hörer doch noch in den Bann zu ziehen. Seltsames Skandinavien.

Inspiriert von The Residents, Marc Perry, Negativland und wohl auch von Krautrock und Dada dokumentierten ab 1981, abseits der Metropolen im Französischen Süden Patrick Dekeyser und Vincent Epplay unter dem Namen DEK (Des Enregistrements K7) ihre nächtlichen Zusammenkünfte, die sich in durchstrukturierten minimalistischen Soundcollagen manifestierten. Noch deutlich von der Aufbruchsstimmung des Punks inspiriert, aber sich schon für experimentellere Ausdrucksformen interessierend, ist die Wiederveröffentlichung dieser Kassettenaufnahmen aus dem Archiv des Duos auf Jelodanti Records eine wahre Perle. Elektronische Minaturen, Xylophon, Saxophon, Gitarre, Tapeaufnahmen, surrealistische deutsche, englische und französische Lyrics, absurde Radiohörspiele und vieles mehr bekommt man zu hören. Musik, die damals wie vieles zwischen 1978 und 1982 ihrer Zeit voraus war und auch heute noch mindestens zeitgemäß und frisch klingt.

 

Durch die Nachwehen der Pandemie sind natrürlich speziell auch die kulturellen Einrichtungen, insbesondere die mit nicht kommerzieller Ausrichtung, in vielen Städten gebeutelt worden. Zum Beispiel: Newcastle. Die lebendige Undergroundszene um das Old Police House und das Tusk Festival muss sich gerade wieder neu erfinden, da plötzlich die Mittel und die Räumlichkeiten fehlen. Aber aufgeben gilt nicht. Richard Dawson, Mariam Rezaei und auch Jayne Dent, die als Me Lost Me mit RPG gerade ein neues Album präsentiert, tragen den DIY-Geist der experimentellen Musik made in the North East auch auf internationale Bühnen. Me Lost Me wirft traditionelle Folklore, Geschichten und Poetry, alt und neu mit den Billigtönen von Computerspielen in einen Topf, rührt das Gemisch kräftig durch und klingt so catchy wie eigen. So kann ein überlieferter traditioneller Folk-Song sich mit einem über Schlaflosigkeit, aufgrund einer Überreizung durch Videospielkonsum ohne Stilbruch ablösen, traditionelle Arrangements münden in solche mit Streichern und Synthesizern; und dazwischen singt Dent mal kurzerhand A Capella.

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