Ripples
October 7th, 2020
Pop Dell’Arte – Transgressio Global
Zehn Jahre nach dem letzten Statement der Lissaboner Art-Pop-Rock-New Wave Institution in Albumform war für den Mai die Veröffentlichung ihrer – erst – fünften Platte seit dem Debut Free Pop von 1984 – Transgressio Global – und eine Tournee angekündigt. Die Weltenlage machte auch diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung und ein Song wie Panoptical Architects For Empty Streets In A Silent City wird zum ungewollten Soundtrack der Gesundheitskrise. Die nun doch erschienene Platte knüpft überraschend nahtlos an Contra Mudum von 2010 an, selbst die Ausflüge in die Antike und Texte in Altgriechisch, Latein oder Spanisch fügen sich in das von João Peste schon immer geschätzte Mischmasch aus englischsprachigen Slogans und Portugiesisch und traumwandlerisch in das musikalische Amalgam aus Post-Punk, unterkühlten Synthesizerschleifen, Klassik, Folklore, Goth und noch so vieles mehr ein. Peste, schon immer ein vielseits Interessierter und Begabter taucht tief in die griechische und römische Mythologie ein. Dass er bei anderen Songs politisch Stellung zur aktuellen Themen einer aus dem Ruder laufenden Europapoliktik nimmt, ist kein Widerspruch. João Peste und seine Mitstreiter Paulo Monteiro, Zé Pedro Moura und der neu hinzugestossene Schlagzeuger Ricardo Martins sind insofern Solitäre in der Portugiesischen Independent Szene, dass sie den oft praktizierten Spagat zwischen Hitparade und Untergrund mit einigem kommerziellen Erfolg kultivierten und doch immer auch Avantgarde blieben. Die post-revolutionäre Aufbruchstimmung trieb in der Musikszene in Lissabon und Porto viele Blüten, aber selten brachte sie wirklich Eigenständiges hervor. Die Außenseiter aber fanden zuerst bei Pestes Mikrolabel Ama Romanta Unterschlupf, bevor sie ihre eigenen Wege einschlugen und Pionierarbeit für die heute vielverzweigte und wegweisende experimentelle Musikszene Portugals betrieben.
Poesie, Philosophie und vor allem das Hören von vielen, vielen Platten, daraus speist sich das künstlerische Ego von João Peste, der die Einfallslosigkeit und die Austauschbarkeit der Musik der jungen Generation beklagt. ” Ich hatte das Glück in einer Zeit aufzuwachsen, in der die aktuelle Musik immer in die Zukunft wies und jede Band ihren eigenen Stil pflegte. B 52’s klangen völlig anders als Devo, die wiederum anders als Suicide klangen und XTC pflegten wieder einen anderen Stil. Zu jeder Zeit hatte die jeweils junge Generation eine Sprache, eine eigene Musik und eine eigene Einstellung. Heute sind die meisten Dinge und damit auch die Musik unglaublich gleich, charakterlos und damit belanglos. Regression herrscht nicht nur in der Kultur, sondern in der Gesellschaft an sich.”
Zeit und Transgression sind die sich aufdrängenden Themen auf dem neuen Album von Pop Dell’Arte.
Em Creta, von einem Gedicht von Sophia Mello Breyner (Ressurgiremos) inspiriert und in Portugiesisch und Alt Griechisch gesungen, befasst sich mit dem Überschreiten bzw. dem Überwinden der Zeit. Mit dunklem Timbre und von synthetischen Drums und schwerem Bass unterlegt, singen Peste und Cristina Abranches (den Griechischen Part) von der Rückkehr vom Tejo und dem Nil nach Kreta. Ähnlich antik und poetisch geheimnisvoll geht es in Apollo (nach Ovid), Mellitos Oculos Tuos, luuenti, in Lateinisch gesungen oder der Interpretation eines weiteren griechischen Gedichts Egô Désoptron Eien zu. Dabei wissen die Pop Avantgardisten diese Texte und Quellen ebenso meisterhaft zu abstrahieren wie es ein Xenakis in der neuen Musik z.B. bei Kraanerg oder Oresteia gelang. Diese Stücke treffen auf drei kurze Klangkollagen über Pärt, Foucault, Orpheus, die wiederum von skizzenhaften experimentellen “Free Pop ” Songs wie Panoptical Architecture For Empty Streets In A Silent City, In Different Times At The Same Time oder das die poetischen Gedankensprünge auf den Punkt gebrachte Minotaur Meets Picasso in Lisbon in 2084 konterkariert werden. Eindeutige, mit Slogans spielende politische Statements gibt es auch: Sem Nome zelebriert die Geschlechterfreiheit, A New Identity und Anominous, zwischen 2013 und 2015 geschrieben, rufen zum Kampf gegen die von der Troika aufgezwungene und von der damaligen Regierung nur zu gerne unterstützte neoliberale Politik auf. Der bedenkliche Zustand Europas schwingt in den Zeilen dieser Songs mit. El Derecho De Viver En Paz, eine Coverversion von Vitor Jara, transformiert sich zu einem düsteren Abgesang.
Die hypnotischen, die Musik und die anarchistische Freiheit feiernden, immer leicht verpeilten und nicht aufs Erste einsortierbaren Rocker wie Psycho Urban Jungle Rock, Post Romantic Lover und Freaky Dance gehören traditionell auf jedes Pop Dell’Arte – Album und sind ein Markenzeichen der Band.
Die ansonsten zwischen Free Folk und Neuer Musik pendelnde Cellistin Joana Guerra oder der mit der Free Music Lissabons verbundene Saxophonist Rodrigo Amado fügen mit ihren Beiträgen noch zusätzliche Facetten zu.