Ripples
May 5th, 2022
BRDCST – Festival Bruxelles 2022
Als legitimer Nachfolger des Domino-Festivals, das jahrelang in Brüssel die zukünftigen angesagten Underground-Acts und Geheimtipps an einem Ort versammelte, dient nun die retro-futuristische Birminghamer Band Broadcast und deren Musik den Veranstaltern des BRDCST-Festivals als Inspiration für musikalische Innovationen. Trotz dem frühen Tod von Trish Keenan und den wenigen Alben, die Broadcast veröffentlichen konnte, spannt ihre Musik doch einen wunderbaren Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft.
Während der drei Tage der 2022-er Ausgabe des BRDCST-Festivals wurde man dann nebenbei auch nochmals einem kontinuierlichen Brainwashing unterzogen, lief die Musik der Band doch während der Pausen auf Dauerbetrieb im Shuffle-Modus. Im altehrwürdigen, aber auf den neuesten Stand gebrachten Ancienne Belgique – AB – konnte man sich fast wie in alten Zeiten fühlen: Ein exquisites Programm quer durch die Underground-Genres, das gewohnt offene Brüsseler Publikum und starkes belgisches Bier. Wäre es dann nicht doch noch zur einen oder anderen pandemiebedingten Absage gekommen, man hätte die vergangen zwei Jahre für einen Spuk halten können.
Am ersten Abend standen die ugandischen Untergrund-Labels Nyege Nyege und Hakuma Kulala aus der Hauptstadt Kampala im Fokus, die, Internet ausnahmsweise sei Dank, sich durch ihre Version von Außenseiter-Klub-Musik einen guten Ruf, auch international, erworben haben, und deren “Star” fraglos MC Yallah ist. Ihre elektrisierende Musik, ein ungemein anregendes Gebräu aus Grime, futuristischem Hip Hop und Punk, und ihre imposante Performace und Statur wird durch den franzsösischen Musiker und DJ Debmaster noch zusätzlich geschärft und geschliffen.
Ecko Bazz, anschließend im Clubraum zu sehen, konnte man dann als die maskuline Ausgabe von Yallah, ohne ihren Charme, durchgehen lassen. Das Perkussions-Trio Arsenal, das furios treibende Rhythmen mit einem gespenstischen Nachhall von Refrains traditioneller Songs verband, zog das Publikum wohl so in den Bann, dass sie am darauffolgenden Abend gleich nochmals für die nicht auftreten könnende Circuit Des Yeux gebucht wurden.
Gut hätte stilistisch auch Jana Rush aus der Chicago-Szene zu diesen Overdrive-Künstlern aus Kampala gepasst, wobei sie ihren schnellen und harten Beats inzwischen die eine oder andere verschwurbelte Prise anderer experimenteller Genres beimischt.
Neben dem legendären Ruf der Technoakrobaten hallt der, des Jazz-Avantgarde-Kosmos in Chicago und New York gleichfalls in die weite Welt.
Mit der Trompeterin, Sängerin, Poetin Jaimie Branch, einer Schwester im Geiste von Matana Roberts, und ihrer Band, die mit einer sympathischen punkigen Attitüde Free Jazz, Avantgarde, melodische Einsprengsel und explizite politische Aussagen in Einklang bringen, steuerte man einerseits dem Höhepunkt des ersten Abends zu und konnte glauben, dass im Nach- oder wieder Prä-Trump-Land doch noch nicht alles verloren zu sein scheint.
Für das stille, aber nicht minder interessante, Hintergrundsprogramm im leider platzmäßig arg limitierten Salon im Obergeschoss, sorgten die zu recht gefragte Cellistin Lucy Railton und die belgische Farida Amadou, die mittels Fenderbass erstaunliche Klänge hervorbringen konnte.
Durch die Ausfälle der Hauptacts Circuit Des Yeux und Hiro Kone am zweiten Abend rückten andere Musiker in den Mittelpunkt, z.B. Christina Vantzou. Im nun mit einer Zuschauertribüne versehenen Theaterraum brachte sie den typischen Kranky Records-Sound in die belgische Hauptstadt: Lang angelegte, ambient-meditative aber suggestive Drone-Kompositonen, die man gerne als post-klassisch bezeichnet. Der sympathische Eigenbrötler Yosuke Fujita widmete sich zuvor seiner selbtgebauten, etwas futuristisch aussehenden Orgel aus elf Pfeifen und findet sich mit seiner orginellen Musik plötzlich im allgemeinen Genre-Name-Dropping unter hipperen Zeitgenössinen wie Anna von Hausswolff und Kali Malone wieder.
Das vielleicht typische Londoner urbane Gebräu aus Dub, Post-Punk und Grime bediente Wu-Lu vortrefflich, während Bitchin Bajas ihr hochgelobtes Tape Switched On Ra live präsentierten. Letzteres für meinen Geschmack ein ziemlich unverdauliches Gebräu aus Eso-Kitsch, verquirltem Hippie-Getue mit affektierten Gesang. Schnell noch mal raus auf die Straße und um die Ecke auf dem Boulevard Anspach sich dem hochprozentigeren, aber bekömmlicheren belgischen Gebräu gewidmet war die kurzfristige Lösung des Problems.
Im Salon verzauberten und versöhnten dann aber wieder die Solo-Performances der Neue Musik- Klangkünstlerinnnen Elisabeth Klinck (Violine, Elektronik) und Judith Haman (Cello).
Eine belgische All-Star-Band interpretierte am Sonntag anlässlich des fünfzigsten Erscheinungsjahres von Tago Mago den Klassiker von Can in voller Länge.
Im Salon ging es nochmals intimer zu: die Violinistin Catherine Graindorge präsentierte unter anderem ihr ausgesucht schönes Solo-Album Eldorado, das mit ihren Streicherarrangements und elektronischen Verfremdungen und filmischen Kompositionen an ähnlich melancholisch veranlagte Zeitgenossen wie Julia Kent odert Sarah Neufeld erinnert.
More Eazes und Seth Grahams Musik als —__–___ wirkt klaustophobisch und anderweitig beklemmend, einerseits, aber auch in die Zukunft gerichtet und überweltlich schön. David Sylvian scheint Fan zu sein, und so atmospährisch und eklektisch wie seine Solo-Alben ist auch die Musik des Duos.
Einer der Schwerpunkte des diesjährigen Festivals und Artist – In – Residence war die britische Perkussionistin Bex Burch, die – hyperproduktiv – gleich drei ihrer so unterschiedlichen wie hochkarätigen Bands bzw. Kollaborationen vorstellte. Das Ghanaian Xylophone, Gyil genannt, ist das bevorzugte Instrument ihrer Wahl. Im Gegensatz zum traditionellen, rituellen Gebrauch, oft als Begleitung bei Beerdigungen, führt einen Bex Burch in beswingtere musikalische Aggregatszustände. Nachdem sie das Spielen teilweise in Ghana selbst studierte, entwickelte sie in zurück in England eine modernisierte Version des Instruments, das auch elektronisch gekoppelt werden kann.
Zusammen mit Leafcutter John nahm sie während der Seuchenzeit via Zoom ein Album auf, das, wie man sagt, deutlich mehr als die Summe der Einflüsse und Qualitäten der beiden Musiker bietet. Live klang die Fusion aus futuristischer Library-Music, dem hier elektronisch klingenden Gyil und ambienten bis verschwurbelten Synthesizerklängen fesselnd.
Vula Viel, ihr Trio mit Ruth Goller (Bass) und Jim Hart (Drums), dagegen ist wieder ein ganz andere Geschichte, vermischt aber nicht weniger waghalsig unterschiedliche Stile: Ein unterkühltes Post-Punk-Flair mit treibenden Rhythmen à la der World Music Fraktion von Crammed Discs und Neue Musik-Minimalismus nämlich.
Auf Strut Records, einem Londoner Label, das sein Schaffen der jungen Jazz-Szene, aber auch dem Vermächtnis von Sun Ra widmet, erschien dieses Jahr das Debut-album von Flock.
Bex Burch spielt hier mit unterschiedlichen Musikern aus der alternativen Londoner Szene zusammen: Danalogue (fender rhodes), Sarathy Korwar (drums, tabla), Al Macsween (prepared piano) und Tamar Osborn (bass clarinet, soprano sax). Zwischen Groove, Melodie, Introspektion, kosmischem Free Jazz und nordafrikanischen und indischen Einflüsse spiegelt die Musik von Flock die hyperheterogene Musikszene Londons wieder, und das wirkt auch auf der Bühne in Brüssel brilliant und mitreißend.
Tirzah und Mica Levi lernten sich an der Purcell School for Young Musicians in Hertfordschire kennen und daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die sich auch kreativ in gemeinsamen Projekten und gegenseitigen Gastbeiträtgen niederschlug. Die geschulte Komponistin und Produzentin Levi (Micachu, Good Sad Happy Bad, diverse Filmscores etc.) ermunterte Tirzah ihre Bedroom-erprobten Songs so unverkünstelt und roh wie sie sie zu hören bekam, aufzunehmen. Ihre beiden Alben – Devotion und Colourgrade – bestechen deshalb durch scheinbare Einfachheit, die dahingeschludert wirken mag, aber letztlich doch bis ins kleinste Detail durchdacht ist. Tirzahs warmer Gesang kleidet ihre melancholischen, windschiefen Songs in emotionale Lullabies, die nachhaltig Spuren hinterlassen. Auf das absolut Wesentlichste reduzierte Versatzstücke aus Dub, R & B, Ambient, Noise, verschleppte Beats und Pop lassen ihre Musik zugleich traditionsbewusst, cool wie zeitlos erscheinen.
Mit Coby Sey als geistesverwandtem Illustrator ihrer Songs bezauberte Tirzah auch live – obwohl die Bühne des großen Saals des AB für die intime Darbietung etwas überdimensioniert wirkte – das Publikum vom ersten Ton an. In einer sympathischen Mischung aus Understatement und Selbstbewusstsein sang sie ohne jegliche Inszenierung oder gar Bühnenshow eine Auswahl der Songs ihrer beiden Alben.
Jenny Hval stellte – sozusagen als Headlinerin am Sonntag – ihre neues, pop-affines Album vor, das aber letztlich immer noch Off-Stream ist. Intellektuell, vertrackt und textlastig in merkwürdige Nischen-Genres abtauchend, dann aus dem Nichts wieder einen Ohrwurm-Refrain hervorzaubernd – so kennt man die norwegische Künsterlin, Schriftstellerin und Musikern seit ihren ersten Gehversuchen im Umfeld von Noise – Master und Produzent Lasse Marhaug.
Verschwurbelt-abstrakte Texte, trockene Ironie und Pop-Hooks widersprechen sich im Universum von Jenny Hval nicht, ganz im Gegenteil, sind sie doch die Essenz ihres von Album zu Album immer weiter perfektionierten Handschrift. Ihre bemerkenswerte, sich immer wieder wandelnde Stimme hat von glockenhell bis cool und klassisch alle Nuancen drauf. In Brüssel präsenentiert sie mit ihrer aktuellen Bandüberwiegend das neue Album Classic Objects.
Jenny Hvals Entertainer-Qualitäten sind angesichts der komplexen Songs und kopflastigen Lyrics durchaus ein wenig überraschend. Sie gestaltet jeden Song und nimmt die Bühne mit einer starken Präsenz ein, und die Band – Johan Lindvall, Havad Volden, Hans Hulbaenko, Vivian Wang weiß zu grooven. Ironischer Smalltalk mit dem Publikum und das Auftreten einer Post-Punk-Band gleich, aus einer Zeit also, in der Inhalte und Attitüde noch etwas bedeuteten, konstrastieren schön mit der zeitgemäßen Musik und den ironisch bekleideten Rollen.
Ripples
April 23rd, 2021
Mocke – Parle Grand Canard
Pierre Barouh – Le Pollen
Von den Zusammenarbeiten mit Eloise Decazes, Claire Vailler oder Delphine Dora kennt man den unter dem Künstlernamen Mocke aktiven Pariser, aber in Brüssel wohnenden, Dominique Départ als kongenialen Arrangeur, Gitarristen und Komponisten, der die exzentrisch-zarten Vertreterinnen des alternativen frankophonen Chansons und Rocks perfekt in Szene setzt.
Die jazzig, leicht verdreht-psychedlisch und folk-rockigen Songs spiegeln aber nur eine Seite des Musikers Mocke wider. Auf seinen drei rein instrumentalen Solo-Alben kommen zahlreiche andere stilistische Affinitäten zum Vorschein. Parle Grand Canard wird von der 16-minütigen Suite Quel est ton parcours?, die die ganze erste Seite der LP einnimmt, dominiert. Melodisch, leicht, und subtil scheinen seine Vorlieben für klassische Komponisten (Britten, Schostakovitch) durch. Streicher, Piano und Chöre verdichten die harmonische, introspektive Komposition und veredeln sie mit einem Hauch Andersweltlichkeit. Stilistisch noch offener sind die sechs kürzeren Songs auf der zweiten Seite. Ausflüge in osteuropäische Folklore, ein kurzer Klezmer-Intervall, melancholische Chöre, ein Waldhorn setzt Akzente und fragile bis kurz ins Rockige ausbrechende Gitarrenminiaturen lassen über eine kurze Aufmerksamkeitsfähigkeit des Komponisten spekulieren, wäre da nicht die erste Seite des Albums.
Als schwer einsortierbaren Tausendsassa der Brüsseler Undergroundzirkel, der sich sympathischerweise nie ganz zwischen Avantgarde und Pop/Chanson entscheiden kann und daher bevorzugt jeden Song auf zahlreiche Abwege führt, ohne eine gewisse beswingte Coolness und Leichtigkeite außer acht zu lassen, toppt Parle Grand Canard das schon ausgezeichnete Vorgängeralbum St-Homard sogar noch.
Nur die turbulente und chaotische Zeit des letzten Jahrhunderts, die in der Stunde Null mündete und danach in den 1950er- und 1960er Jahren ein beinahe irrationales Aufbruchdenken bewirkte, das auch den Künstlern Platz zum Experimentieren und Visionen umsetzen einräumte (Donaueschingen, Weltausstellung Brüssel, John Cage Shock Tokyo etc.), konnte einen Werdegang wie den von Pierre Barouh in die Wege leiten.
In der Zeit der Naziokupation wurden er und seine Geschwister von seinen Eltern von der Periferie von Paris in die Provinz geschickt, wo ein Untertauchen eher möglich war.
Nach dem Krieg arbeitete Bourouh als Sportjournalist und war selbst aktiver Volleyballer, bevor er dann ins Schauspielfach überwechselte und gleichzeitig die Musik entdeckte. In Portugal kam er in Kontakt mit brasilianischen Exilanten und begann sich für Bossa Nova zu begeistern. In einer erworbenen Mühle in Vendée richtete er ein Tonstudio ein und gründete das legendär werdende Saravah – Label, das neben den ersten Platten von Brigitte Fontaine oder Jaques Higelin, vor allem auch experimentellen Jazz wie Platten von Steve Lacy und Bossa Nova-Künstlern wie Nana Vasconcelos veröffentlichte.
Selbst komponierte Pierre Barouh auch. Nach seinem Erfolg mit dem Titellied für Claude Lelouchs gleichnamigen Film Un Homme Et Une Femme – ein Duett mit Nicole Croisille – sind neben Filmmusiken und der Beteiligung an Theaterstücken, vor allem die nach der Heirat mit der japanischen Malerin Atsuko Ushioda in Tokio entstandene Musik interessant.
Das nun vom Genfer Label WRWTFWW Records, das auch schon die grandiose Vanity Records Box zugänglich machte, wiederveröffentlichte Kultalbum von 1982 Le Pollen ist ein Meilenstein dieser Zeit und symbolisiert vielleicht unbewusst das Ende einer Ära des optimistischen Fortschrittsdenkens. Die Zeiten wurden wieder angespannter. Die Beteiligung der Arbeiterschaft am Wirtschaftswunder und Wohlstand wurde radikal gekappt und die neoliberalistischen Ideen begannen sich zu konkretisieren; der Kalte Krieg wurde zunehmend heißer und bedrohlicher.
zelebriert allerdings nochmals auf zugängliche Art den Eklektismus und die Neugierde für andere Kulturen. In Tokio mit einer exquisiten Schar von Vertretern der Jazz- und Elektronikszene (Toshinori Kondo, Keeichi Suzuki, Ryuichi Sakamoto uvm.) und Gästen (David Sylvian, Harumi Ohzora, Nanako Satoh) eingespielt, wirken die Songs unnachahmbar cool und intelligent. Typisch japanisch ohne Scheuklappen, ungeniert Genres wie Chanson, Ambient, Minimalism, Jazz oder gar Reaggae wechselnd, liegt über der loungig wirkenden Atomosphäre der Musik ein Versprechen von europäischer Melancholie.
http://www.wereleasewhateverthefuckwewantrecords.bandcamp.com
Ripples
May 26th, 2020
Aksak Maboul – Figures
Das Konzert hätte in einem der derzeitigen Kreativlabors der belgischen Hauptstadt stattfinden sollen: den Ateliers de Claus, im elegant verwitterten Jugendstil-Stadtteil Saint Gilles gelegen.
Die Präsentation des dritten offiziellen Aksak Maboul Albums zum vierzigjährigen Jubiläum musste aus naheliegenden Gründen um unbestimmte Zeit verschoben werden.
Rückblick, Ende der 1970er Jahre:
Trotz nicht unbedeutender Konkurrenz beeinflusste Marc Hollanders Band, die er mit dem späteren World Music- Produzenten Vincent Kenis gründete und sein Label – Crammed Disc – die traditionell offene und heterogene musikalische Szene Brüssels nachhaltig. Kasai Allstars, Konono N°1, Juliana Molina, Bebel Gilberto oder Yasmine Hamdan sind zweifellos die Namen, die für die internationale Ausrichtung des Labels im vergangenen Jahrzehnt standen und deren Musik den Sprung vom Außenseitertum zum Mainstream meisterte. Die sperrigen Urgesteine Tuxedomoon, die jahrelang Brüssel zu ihrem Refugium machten, die Soundkünstlerin Bérangère Maximin, die exzentrische Hermine, Minimal Compact und Aksak Maboul / Honeymoon Killers sind aber mindestens genauso bedeutend für die Labelhistorie.
Die Blaupause für Crammed Discs Onze Danses Pour Combattre Le Migraine von Aksak Maboul erschien ursprünglich aber auf Kamikaze Records, einem Brüsseler Label, das von dem Radio-DJ Marc Moulin mit einem Faible für das Abseitige ins Leben gerufen wurde und … genau für vier Alben existierte. In einer Zeit in den 1970ern als die Sex Pistols gerade begannen das tröge Musikgeschäft mit inszinierter Bad Boy-Attitüde aufzumischen und Munich Disco und bombastischen Prog Rock nach Jahren des Stillstands endlich in die Schranken wiesen, beriefen sich Marc Hollander und Vincent Kenis hingegen auf satieeske Minimalismen, Jazz, osteuropäische Folklore, Neue Musik und you name it. Eine Musik, die melancholisch, verspielt und auf verblüffende Art neu und subversiv klang. Das zweite Album Un Peu de l’âme des Bandits stand dagegen ganz im Geiste des intellektuellen Art Rocks; kein Wunder, spielten doch Mitglieder von Henry Cow und Univers Zero eine prägende Rolle.
Die anschließende Fusion mit der Band von Yvon Vromman und Véronique Vincent The Honeymoon Killers zu einer Avant-Pop-Supergroup ergab sich dann von selbst, erschien doch deren Album Les Tueurs de la Lune de Miel auf Crammed Discs. Die Formation löste sich aber dann nach ausgiebigen Tourneen durch Europa doch vorschnell auf. Hollander komponierte mit Véronique Vincent fleißig neue Stücke, die aber nie fertiggestellt wurden und erst 2014 erschienen (Ex-Futur Album).
Nun also Figures: ein Doppelalbum, das mit Hollander und Vincent als Kerngruppe, verstärkt um die nervösen, hyperaktiven Mitglieder von Aquaserge, Faustine Hollander, Steven Brown, Michel Berckmans und anderen älteren und jüngeren Weggefährten das ganze eklektische Univerum der Band vereint. Figures ist ein Album, das zwar nicht zu neuen Ufern aufbricht, aber die ursprüngliche Idee auf charmanteste Art weiterträgt.
Wie schon beim Ex-Futur-Album gibt die Künstlerin Véronique Vincent, gespeist mit einer nicht zu knappen Dosis Surrealismus, der Literatur der Morderne und einer Menge anderer, oft belgischer, Querverweise eine intellektuelle Version von Lio und Françoise Hardy. Hollanders, so verschachtelt wie melodische Kompositionen sind von Tasteninstrumenten und Drum Programming geprägt, darüber entfalten sich die von Aksak Maboul gewohnten Abzweigungen und Verirrungen und Verwirrungen in alle denkbaren musikalische Stilrichtungen von Belang.
Ein Pop-Album zwischen der eckigen Tradition des New Waves und den frankophonen, poetischen Höhenflügen von Sophie Jausserand und Guigou Chenevier (A L’Abri Des Micro-Climats).
Kraak Festival 2020
April 11th, 2020
Kraak Festival 2020
Die zwanzigste Ausgabe des Kraak Festivals, die die umtriebige Genter Crew erneut in der geschichtsträchtigen Beurschouwburg in der belgischen Metropole veranstaltete, war, besonders natürlich jetzt im Rückblick gesehen, eine besondere.
Auf der Hinfahrt aus dem Süden konnte man an diesem vorletzten Tag im Feburar schon eine latente Anspannung und ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis in den Zügen ausmachen (wohl aber nicht der Beweggrund dafür, warum sich die Spur meiner Festivalbegleitung schon vorab irgendwo im Nirgendwo verlor); in Brüssel wiederum gab man sich noch locker und ausgehfreudig, was sich dann schon eine Woche später grundlegend ändern sollte.
Auch im Schaltjahr 2020 herrschte aber wie immer an einem gewöhnlichen Freitagabend in der Brüsseler Innenstadt Hochbetrieb. Der sich nach und nach von einer Rennstrecke zu einer lauschigen Fußgängerzone verwandelnde Boulevard Anspach verliert auf dem Weg zur Gare Du Midi nun auch einige seiner grandios verwittereten Lagerhallen und Herrschaftshäuser. Die dafür hochgezogenen trögen Funktionalbauten mit ihren Late Night Supermarktshops sind da kein wirklicher Trost. Vor zwei Jahren herrschte in der Stadt während des Festivals aufgrund der Antiterroraktionen noch eine gewisse Nervosität, die etwas andere Seuche dagegen bleibt – für den Moment wenigstens – eine noch diffusere Bedrohung.
Nach dem 24-Stunden – Marathon-Wahnsinn von 2019 vertraut man dieses Jahr wieder darauf, dass die gewünschte Bewußtseinserweiterung schon alleine aufgrund des hochkarätigen Programms auch ausgedehnt auf den Freitagabend und den Samstag zustande kommt. Der Freitag ist diesesmal den Musikern vorbehalten, die 2020 Alben auf dem Label veröffentlichen.
McCloud Zicmuse von der Herberg Rustiek, einem schrägen Kollektiv, das in Brüssel einerseits ausgesuchte Gäste beherbergt, aber auch Konzerte veranstaltet, Ausstellungen organisiert, Fanzines produziert oder Kunstobjekte herstellt, führt ganz in der Tradition der vergangenen Moderationen und doch auf seine eigene eigenwillige Art und mit dem Anspruch, noch exzentrischer als die Musik sein zu wollen, souverän durch das Programm.
Von der lauschigen Bar der Beurschouwburg wird man zum Auftakt des Festivalls von Mr. McCloud Zicmuse also direkt auf die Straße in den Nieselregen gebeten, wo der eigentlich visuelle Künstler Stijn Wybouw, seine andere, musikalische Ader als Kramp in einer zehnminütigen Kakaphonie von Noise und Punk kanalisiert. Länger wäre das Eindreschen auf eine Schlagzeugtrommel und das gegen eine Krachkollage Anschreien auch wohl physisch nicht möglich gewesen.
Als erfahrener Kraak Festival-Besucher weiß man natürlich, dass die musikalische Schattierung sich schon beim folgenden Konzert wieder verschieben wird und die einzige Konstante ein Faible für die inzwischen rare Spezies der verqueren, freigeistigen Einzelgänger zu sein scheint. Eva Van Deuren ist da z.B. ein Prototyp: Unter dem Namen Orphan Fairytale wird sie ihrem Künstlernamen mehr als gerecht. Mit Harfe, low-fi-electronics, Keyboards und Tape Loops gestaltet, suggerieren ihre verspielten, langen Kompositionen die Illusion, alleine, der Welt entrissen, auf einem fliegenden Teppich über psychedelisch-verschwurbelte Klanglandschaften zu schweben.
Nachdem die Antwerperin auf unterschiedlichen Labels Kassetten veröffentlicht hat, war ihre Doppel-LP auf Aguirre – Records ein starkes Statement. Nun darf man gespannt sein, was sie für die Kraak-Veröffentlichung plant.
Vica Pacheco aus Oaxaca, Mexiko lässt mit ihrer akademisch geprägten elektronischen Musik unweigerlich Erinnerungen an die große Tradition von radiophonischen Hörspielkomponisten, elektroakustische und acousmatische Musik wach werden. Ihre dynamischen Kompositionen wirken (und sind wahrscheinlich) wie aus tausend Partikeln zusammengesetzt. Aus der jüngeren Generation kommt einem die unkonventionelle Bérangére Maximin in den Sinn, deren “Dangerous Orbits” auch mächtig Eindruck hinterlassen.
Jonna Karanka bewegt sich anschließend in einer ähnlichen musikalischen Welt, lässt aber gerne und immer wieder ihren Punk-Gen aufblitzen. Der hyperaktiven finnischen Undergroundszene um Fonal Records entsprungen, kennt man sie schon von der dronig-lärmigen Frauenband Olimpia Splendid, und wird nun von Kuupuu, ihrem Soloprojekt, ebenfalls angenehm überrascht. Sie spielt melodisch-krachig und mit trockenem Humor dann überraschend fein gesponnene Songs. Maria Rossi aka Cucina Povera, trotz des Namens ebenfalls Finnin und in Glasgow residierend, ist von ähnlich genialen Kaliber und könnte die Schwester von Jonna Karanka sein.
Crash Toto, zusammengesetzt aus Mitgliedern von Lemones, die vor zwei Jahren schon als Lokalmatatoren einen Auftritt beim Festival hatten, Carrageenan und Christophe Clébard, klingen dann wie …. die Lemones: die bewährten Mittel – auf das Grundgerüst reduzierter Rock, parolenschreiender Nichtgesang, tribalistisches Schlagzeug, und das alles inmitten des Publikums zelebrierend – sorgen dann neben dem Spaßfaktor auch für eine gewisse gemeinsame Entrückheit, manche würden es Magie nennen.
Nach dem beinahe schon traditionellen Spaziergang zum Wiels Museum für Moderne Kunst (die Ausstellungen -Thao Nguyen Phans – Monsoon Melody und Wolfgang Tillmans’ Today Is The First Day – haben es gewohnt schwer mit der Architekur der ehemaligen Brauerei und dem Ausblick von der Dachterrasse mitzuhalten) startet das Samstagsprogramm des Festivals am Nachmittag mit Fiesta en el Vacío.
Luna Cedron lebte, von ihrer umtriebigen Mutter ins Schlepptau genommen, schon in Frankreich, Mexiko, Kuba, Spanien und Argentinien; ein Überschwall von prägenden Einflüssen und Eindrücken, der sich auch in ihrer von Cold Wave -, Synthie-Pop -, Ambient – bis zu Flamenco -versatzstückelnden Musik ausdrückt. Die argentisch-jüdische Poetin Alejandra Pizarnik, die von ihren aus der UDSSR geflohenen Eltern und ihrer Geschichte auch die Schwermut vererbt bekommen hat, wird von Luna Cedron in der Festivalausgabe des Avant – Guardian auch als wichtiger Einfluss genannt. Eine schöne Verbindung zu ihren subtil melancholischen Songs, bei denen es im Gegensatz zu ätherischeren Vertretern ihrer Zunft durchaus auch hin und wieder gesanglich zur Sache geht. Eine Single von Fiesta En El Vacío ist auf dem für Synthie/Cold-Wave – Musik bekannten Brüsseler Label Lexi-Records, das uns auch schon solche Perlen wie Capelo oder ELG bescherte, erschienen.
Bei Siet Raeymaekers und Tomas Dittborn ist dann im Gouden Zaal Multidisziplinarität angesagt, bzw. unter dem Projektnamen Quanto Qualia die Live-Vertonung von Computeranimationen von Landschaften auf der Leinwand. Zusammen mit Lizzy Vandierendonk zeigte sich das Duo auch für die filigrane visuelle Gestaltung mit Objekten und Videos der Festivalräumlichkeiten verantwortlich.
Die Vergleiche mit Jandek und anderen verschrobenen, zurückgezogenen Außenseitern der Gitarrenmusik ehren ihn sicherlich, doch Gaute Granli, seines Zeichens Norweger, wirkt auf der Bühne überhaupt nicht von mangelndem Selbstbewusstsien geplagt und Geheimniskrämerei scheint auch nicht seine Sache zu sein. Souverän unprätentiös sorgt er mit seinen kompakten, dann plötzlich in bizarre Gefilde und ins Ungewisse ausscherenden Songs zwischen stoischer nordischer Unterkühltheit, exotischen oder irgendwie zusammengeleimten Samples der Sparte Fake-Ethno und knorzigem Gesang für inspirierende Verwirrtheit unter dem Publikum.
Christina Gusimano machte sich in Rom und auch teilweise in den ausländischen alternativen Szenen als Maria Violenza als genresprengende Multiinstrumentalistin mit herzerwärmenden Songs, die von nervöser Energie und außer von italienischen auch von nordafrikanischen Quellen inspiriert sind, einen Namen. Nach schon manch kopflastiger Performance bei diesem Festival trifft ihre Musik straight into the heart.
Man hätte vermutet, dass man gerade in Stuttgart duchaus des Zählens mächig ist, aber die Großformation, die da auf der Bühne der Bar als Yürgen Karle Trio stand, sprengt im wahrsten Sinne des Wortes den Rahmen.
Vor zwei Jahren bekam man an gleicher Stelle den krautisch-verspacten Freak Out von Transport, die auch als eine junge Großkommune anreisten, offeriert; die Szene um die Neue Schachtel am Nordbahnhof in der Baden Württembergischen Hauptstadt ist mehr mit der Free Form Impro-Szene liiert. Da passen Jazz, dissonante Jams, Rhythmusorgien mit selbstgebauten, so schönen wie obskuren Perkussionsinstrumenten und feiner Humor perfekt zusammen.
Mit Fuji wird nach der Pause die bewusstseinserweiternde Freakschraube noch um einige entscheidende Umdrehungen angezogen.
Die belgischen Urgesteine Ware Fungus, Gast Sloow und Louis Frerès treffen hier mit dem japanischen Gitarrenmeister Junzo Suzuki und Mik Quantius, der vom Metal kommend irgendwann bei Embryo landete und sich dann aber als Mann vom Outer Space offenbarte, zusammen.
Fuji heben die Erdenwelt mit einer nur schwer nachvollziehbaren musikalischen Könnerschaft und einer verqueren Mixtur aus pulsierendem Jazz-Kraut-Rock, einer Überholspurenergie und den kryptischen Intonationen des im Schneidersitz auf dem Boden sitzenden und kettenrauchenden Sängers im No-Smoking-Café aus den Angeln und katapultieren sie in ein anderes Universum.
So kann man sich täuschen; normalerweise hätte ich die Band wahrscheinlich ignoriert, aber das sind die unerwarteten Überraschungen, die man auf Festivals erlebt.
Zurück im Gouden Zaal wird mit der Aufführung von Mesias Maihuastacas Kompostition Holz arbeitet II die Tradition des Festivals fortgeführt, wichtige Pioniere der Avantgarde, deren Musik immer noch von Relevanz ist, in diesem Rahmen zu präsentieren. Der 1938 in Quito in Equädor geborene Musiker gehörte in den 1960er mit Mauricio Kagel, César Bolanos oder Beatriz Ferreyra (die 2018 beim Festival anwesend war) zu den wenigen Nicht-Europäern, die eigene Akzente in der Neuen Musik setzten. Im Gegensatz zu den oft sehr theoretischen Ansätzen der Avantgarde, ist Maiguashcas nach den wilden, mit Sound experimentiereden Jahren, daran gelegen, die Geschichte seines Landes und seiner eigenen Herkunft als Abkömmling von nativen Intellektuellen zu reflektieren. Das einerseits introspektive, andererseits mit folkloristischen Versatzstücken durchzogene Stück Holz Arbeitet II spiegelt dies wieder und stach auch choreographisch aus dem Festivalprogramm heraus.
Eine andere, junge, Südamerikanerin, Ailin Grad aus Buenos Aires offeriert dann unter dem Künstlernamen Aylu einen Einblick in ihre aktuelle Musik, die einerseits eine zeitgenössiche Version elektroakustischer Musik sein könnte, aber selbstredend genreübergreifend angelegt ist und mit melodischen Gitarrensamples und lupfigen Melodien angereichert, federleicht ist.
Mit Radioactive Sparrow, der legendären Untergrundband um den aus Wales stammenden, aber nun in Newcastle residierenden und dort die Szene aufmischenden Will Edmondes aka Gwilly Edmondez, begibt sich dann nochmals eine Formation auf die Bühne, die sich die Spontaneität und Unberechenbarkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Die Sparrows können schon auf über neunzig Veröffentlichungen zurückblicken, mit einer Musik, die in der besten britischen DIY-Tradition steht. Alle Sparten der Musikgeschichte werden geplündert, um daraus exzentrische Songs zu basteln, die mit der Kompromisslosigkeit von Punk gespielt werden. Manche dauern nur einige Sekunden, andere ufern komplett und in ungeahnte Richtungen aus.
Vor einigen Jahren, 2016 genauer, spielte Edmondes aka Gustav Thomas mit seiner Tochter Freya aka Elvin Brandhi als Yeah You! eine ganz andere Musik….
Guilhelm All läutet dann mit seinen Plastic Turntabels die Schlussrunde im Gouden Zaal ein, bevor DJ Werner nochmals ins Café zum Kehraus bittet.
Da schon einige Tage später auch in Belgien der Shutdown auch aller kulturellen Aktivitäten in kraft tritt, wird das zwanzigste Kraak-Festival nicht nur wegen der wieder ausgesucht guten Konzerte in besonderer Erinnerung bleiben. Zum Glück ist der Mailorder-Versand weiterhin aktiv.