Ripples October 2018
October 24th, 2018
Memories Live Longer Than Dreams: ÈLG, Köhn, Red Brut
Die Holländerin Marjin Verbiesen, der Belgier Jürgen de Blonde und der Franzose Laurent Gérard konstruieren ihre Musik wie Tagebücher, die freilich schon halb zerschreddert sind: im Sinne des Post-Post-Modernismus sind die Stücke oft nur von verblasster Natur, teilweise konkret, dann wieder so heftig collagiert und mit anderen Elementen überlagert, dass die Wahrnehmung nur eine fragile und brüchige Annäherung an die ohnehin zweifelhafte Realität sein kann.
Laurent Gérard, der als Musiker und Künstler unter dem Namen ÈLG sein Unwesen treibt, ist in Metz aufgewachsen, studierte in Lausanne und fand dann seinen Weg über Paris nach Brüssel; eine fragmentierte Stadt, die seinem Naturell offenbar perfekt entspricht. “Ich mag disparate Dinge, überschreite Grenzen, ein bißchen wie eine Form von Schizophrenie.” So diagnostisch wie präzise beschreibt es die Musik seiner neuen Platte Vu du Dôme. ÈLG kann sich da noch weniger als bisher entscheiden, ob er sich in einem Studio für Elektroakustik vergraben oder doch lieber den verführerischen Chansonsänger geben soll. Beides findet bei Gérard parallel statt und lässt eine nervöse, aus dem Ruder gelaufene Kakaphinie entstehen, die für diejenigen unter uns, die von einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne und schnellem Gelangweiltsein geplagt sind, Balsam ist. Nach diversen Projekten, u.a. mit seinem Jugendfreund Damien Schultz, Opéra Mort und Reines D’Angleterre – für letzteres arbeitete er mit Chédalia Tazartès für zwei Alben zusammen, der als eine Art seelenverwandter Ziehvater betrachtet werden darf und selbst nach Jahren des Schweigens von einer jüngeren Generation wieder Aufmerksamkeit erfährt – findet ÈLG auf seinen Soloveröffentlichungen immer mehr zu seiner eigenen Sprache. Anknüpfend an Tout Poie (Kraak) hören wir wieder die verführerische Mischung aus radikaler Tapemusik, abgefahrener Elektronik und eine dekonstruierte Form des französischen Chansons. “Das ist für die einen zu experimentell, für die anderen zu zugänglich”, so ÈLG. Gérard möchte aber die “Arroganz der intellektuellen Eliten” unterwandern und das mit einem Augenzwinkern. Auf fünf Stücken unterwandert Catherine Hershey die knorrige Vokalkunst Gérards mit einem Touch lässiger Eleganz.
Jürgen de Blondes Platte – Kreis Plön -, die schon 2017 erschienen ist, handelt von ” Vergangenheit und Zukunft, Trennung und Wiedervereinigung, vom Trauern und Jubeln, vom Krach und Frieden”, so die Linernotes. Als Fantasiename für seine erste Veröffentlichung vor zwanzig Jahren ausgedacht, um für seine elektronische Musik ein irgendwie deutschklingendes Wort – “denn elektronische Musik war für mein Verständis deutsch”, zu finden, stellte sich heraus, dass Köhn sowohl ein nicht ungewöhnlicher deutscher Nachname ist und dass der Ort Köhn tatsächlich in Norddeutschland existiert. Ausserdem ist keun bzw. Köhn ausgesprochen flämischer Slang. Und so lösen sich auf Kreis Plöhn die Grenzen zwischen Imagination, Wahrnehmung und Erinnerung wunderbar auf: Die Sozialisierung in Brügge, Feldaufnahmen von Kröten, die Vertonung von Inauguration of the Pleasuredom, das Entdecken der technischen Möglichkeiten in seiner Musik. Zwischen Wohnzimmeraufnhamen und Schnipseln von Liveauftritten, zwischen Feedbackexzessen und bad drugs, zwischen sanfter Melancholie, stolpernden Tanzbodenrhythmen und Shoegazing hat der Verstand ausreichend Möglichkeiten sich zu verlieren. Und doch hält Jürgen de Blonde aka Köhn das Ganze für uns irgendwie zusammen.
Sozialisiert in Rotterdam und durch die Mitwirkung in verschiedenen Bands wie Sweat Tongue (wo sie Schlagzeug spielt und singt) und JSCA, die stark von der No New York- Szene der 1980er beinflusst sind, auf den Geschmack gekommen, beschreitet Marjin Verbiesen auf ihren Solopfaden als Red Brut ganz andere musikalische Wege. Wie eine anarchistisch-freie Form von Musique concrète klingen ihre faszinierenden verschwurbelten Toncollagen. “Die Musik ist eine Sammlung aus allem, was ich sehe, höre und fühle”, so Verbiesen. Bei Liveauftritten wie beim diesjährigen Kraak-Festival in Brüssel hat ihre Musik einen improvisierten Charakter. Ihr Fundus vorgefertigter Tapes kombiniert und mischt sie mit verschiedenen Tapedecks je nach Stimmung und spontaner Dramaturgie. Das Rohmaterial ist oft organischer Natur – Alltagsgegenstände, Aufnahmen von Plätzen oder Orten in der Stadt, vorbeifahrende Züge, aber auch Melodien, auf verschiedenen Instrumenten (Gitarre, analoger Synthesizer?) gespielt tauchen auf und Marjin Verbiesen setzt auch ihre Stimme ein. Die große Kunst der sieben Stücke auf dem Red Brut – Debut ist die Dynamik der Kompositionen. Musik, die so facettenreich ist, dass man beim Hören immer wieder Neues entdeckt. Direkt, roh und subtil driften und stolpert die Musik, um doch von manigfaltigen Rhythmen, schleifend und verhallt, zusammengehalten zu werden, bevor sie dann, psychedelisch-verzerrt, wieder einen ganz anderen Weg verfolgt.
ÈLG – vu du dôme (Gravats)
Köhn – Kreis Plön (Kraak)
Red Brut – Red Brut (Kraak)