Ripples
April 24th, 2020
Delphine Dora – L’Inattingible / Brigitte Fontaine – Terre Neuve
“Alles trägt zur Isolation bei: voneinander unabhängige Home-Studios, Telefon und Fax, Sampling und Synthesizer, Computer, willkürliche Klassifizierung der Musikarten, Verschwinden der kleinen, spezialisierten Schallplattenhändler, kleinbürgerliche Streitereien, fehlende Gesprächspartner innerhalb der Institutionen, gleichsam ein Nichtexistieren der Kritik…”
So hieß es in den Linernotes zur Urgent Meeting – Serie, die das intellektuell und künstlerisch in alle Richtungen offene Musikerkollektiv Un Drame Musical Instantané zu Beginn der 1990er Jahre, als neue Technologien zugleich Fluch und Segen für die unabhängigen Musikfirmen und Musiker wurden, veröffentlichte: ein Ausruf zur Zusammenarbeit Angesicht zu Angesicht.
Gerade jetzt tragen auch nicht selbst bestimmbare Begebenheiten zur Isolation bei, aber beim Hören von Delphine Doras neuer Platte L’Inattingible, die in Zusammenarbeit mit befreundeten Musikern bei geplanten oder spontaner Treffen in verschiedenen europäischen Städten oder vielleicht auch per Mail entstand, kommen einen die Pariser Pioniere der multidisziplinären Avantgarde in den Sinn, und vor allem die unkonventionell denkende und spontan handelnde Hélène Sage.
Delphine Dora veröffentlichte in den vergangenen Jahren auf eigenen Mikrolabels oder denen von Freunden und Gleichgesinnten ausgiebig Musik. Ob auf Kassette, CD-R, File oder Schallplatte bei engagierten Labels wie Okraina oder Three:Four Records; ihrer Musik immer eigen ist eine unbefangene Spontanität bei gleichzeitig leidenschaftlicher Ernsthaftigkeit, ganz im Sinne von Eriks Saties Definition des Amateurs. Bislang waren alle ihre Veröffentlichungen Solo- oder Duoaufnahmen, oft entstanden mit seelenverwandten und befreundeten Musikern wie Mocke, Sophie Cooper, Valerie Leclercq, Eloise Decazes und einigen anderen feinen Zeitgenossen. Zuletzt erschien die hervorragende Solo-LP Eudaimon mit Lyrics der außerhalb Großbritanniens kaum auf Aufmerksamkeit gestoßenen Poetin aus Northumberland Kathleen Raine.
Auf ihrem zweiten Album für das Lausanner Label three:four records L’Inattingible singt die auf dem Land lebende Pariserin nun zum ersten Mal auschließlich Songs in ihrer Muttersprache und Lyrics, die sie selbst verfasste. L’Inattingible entstand auch nicht aus dem Stehgreif, sondern über mehrere Jahre mit der Idee von einem Konzeptablum im Kopf. Bemerkenswerterweise zähmte diese Arbeitsweise keinesfalls den ihr innewohnenden wilden Geist. Die durchwegs melancholisch aufgeladene Musik pendelt stilsicher zwischen spirituellen, traumähnlichen, zwischenweltlich-geisterhaften und surrealen Aggregatzuständen. Stimme und Klavier bleiben auch auf dieser Platte, bei der bei jedem Song zahlreiche Gäste mitwirken – von Nau Nau, Aby Vulliamy, Adam Caddell, Gayle Brogan über Valérie Leclercq, Susan Mathews bis zu Paulo Chagas, Sylvia Hallett und Le Fruit Vert – die wichtigsten Gestaltungsmittel für eine gleichzeitig freie wie strenge, immer noch karg auf das Notwendigste reduzierte Musik. Delphine Dora beherrscht meisterhaft, sie prägende oder stimulierende musikalische Stile wie Free Folk, Klavier – und Kammermusik, Drone oder Liedformen oder wegweisende Figuren wie Nico, Brigitte Fontaine, Schubert oder Satie subtil zu zitieren. Die meist kurzen Stücke, bei denen Dora singt, wirken oft etwas windschief an der Harmonie vorbeigehangelt. Bei den anderen rezitiert sie Gedichte, Fragmente und Kurzgeschichten und beschwört eine mysteriöse Atmosphäre herauf, was mich irgendwie an das wunderbare Projekt von Alain Neffe und Nadine Bal Cortex aus den 1980ern denken lässt.
Auf ihre ganz eigene Art wagt sich Delphine Dora auch mit dem zentralen Stück des Albums – dem aus vier Teilen bestehenden und auf der Platte verteilten Lumière Aveugle – in eine abstrakte und wacklig-brüchige Welt der Kammermusik vor.
Brigitte Fontaine wird dieses Jahr 81 Jahre alt! Mit ihrem zu Beginn des Jahres erschienenen neuen Album unterstreicht sie wieder einmal aufs Neue ihren absoluten Sonderstatus, selbst in der an Exzentrik nicht armen experimentellen Künstlerszene von Paris. Ihr anarchistischer Geist muss sowieso nicht extra befeuert werden. Terre Neuve klingt wie eh und je schräg, spleenig, kratzbürstig, weise und künstlerisch absolut auf der Höhe der Zeit. Schon der Titel ihres ersten Albums – Brigitte Fontaine …est folle -, das zusammen mit Jean-Claude Vannier entstand und mit verschiedenen Formen des Chansons experimentierte, gilt sowohl bei den ihr zugeneigten wie sie ablehnenden Musikliebhabern als Blaupause für ihre weitere Karriere, die außer der Musik auch Theater, Literartur und Filmrollen umfasst. Ende der 1960er Jahre lernt sie auch Areski Belkacem kennen, eine künstlerische wie private Verbindung fürs Leben und nimmt mit dem zweiten Album Comme a la Radio, das zusammmen mit dem Art Ensemble Of Chicago eingespielt wird, einen absoluten Meilenstein der experimentellen Musik auf. Neben politischen Aktivitäten veröffentlicht sie mit Areski in den 1970ern und 80ern auf kleinen Labels intime Alben, die mit einer eigenwilligen Mischung aus Chanson, traditioneller nordafrikanischer Musik und Jazz erst zeitversetzt als wichtige Zeugnisse der unabhängigen französischen Untergrund – Chansonszene, deren andere stilprägende Vertreter Catherine Ribeiro (& Alpes) und Albert Marcoeur sind, anerkannt werden.
Nach einem Beitrag für das Projekt Blow-Up von Un Drame Musical Instantané startet sie mit ihrem 1995er – Album Genre Humain und einer Zusammenarbeit mit Etienne Daho musikalisch voll durch: Elektro-Punk und eine aktualisierte Version von Comme A La Radio läßt auch eine jüngere Generation aufhorchen und Madame Fontaine kann ab dann für ihre Alben neben ihrem Weggefährten Areski immer die Creme de la Creme der französischen und internationalen Avantgarde – Rock – Szene gewinnen: Jim O’Rourke, Sonic Youth und Noir Desir für Kékéland (2001), das Gotan Projet und Zebda für Rue Saint Louis en L’ile (2004) oder Katerine und Grace Jones für Prohibition (2009). Im Film von Gustave Kervern Le Grand Soir gibt sie in einer kleinen Nebenrolle sich selbst und die Mutter zweier missratener Söhne (der eine Punk, der andere Spießer), die in der Einkaufscenter-Ödnis einer französichen Kleinstadt die Revolution üben.
Auf Terre Neuve, einem musikalisch spartanischen und ungemein direkten Album, spielt Yan Péchin eine knorztrockene Rock/Punk-Gitarre oder wahlweise den Depro-Blues, ab und an illustriert Areski gekonnt die Stücke zusätzlich mit Streicherarrangements. Brigitte Fontaine haucht, flüstert, schreit, rezitiert und gestaltet mit schwer nikotingeschwängerter Stimme ihre aktuellen Songs. Die Lyrics auf Terre Neuve sind entweder parolenhaft (Je Vous Déteste, Destroy Nihilisme, God Go To Hell…) oder subjektive, ironische oder schlicht poetische Betrachtungen (Vendetta, Les Beaux Animaux, Terre Neuve, Hermaphrodite…) über den Weltenlauf im Allgemeinen und die aktuelle Lage im Besonderen.
three:four records
August 27th, 2018
three:four records – Ein Porträt des Lausanner Labels
Als zartes Pflänzchen, inmitten des Dschungels angesiedelt, der sich musikalische Subkultur nennt und doch zum größten Teil einhergeht mit Beliebigkeit, darf sich das feine Lausanner Label three:four records, das kommendes Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert, auf die Fahnen schreiben, neben dem schon einige Jahre länger aktiven Leuten von Kraak aus Ghent, am Puls der europäischen Off-Stream-Mikrokultur zu sein. Abseits der renommierten Festival- und Labelszene produziert man herausragende Musik in Kleinstauflagen.
Ob einheimische Künstler, wie die sich beim Gestalten von Soundtracks wohlfühlenden maninkari oder die sich auf alternative World Music spezialisiert habenden La Tène; die portugiesischen Künstler, die in Lissabon mit dem Veranstaltungsort ZDB in Verbindung stehen wie João Lobo, Filipe Felizardo, David Maranha oder der musikalische Tausendsassa Norberto Lobo, die belgischen Erneuerer des (mittelalterlichen?) Drones Razen, die schrägen und innovativen Chanteusen Eloïse Decazes, Annelies Monseré und Delphin Dora oder das Urgestein Thierry Müller, der u.a. eine wunderbare Platte mit der Römerin Mushy aufgenommen hat, um sein mythisches Projekt Ruth neues Leben einzuhauchen; der Katalog von three:four records ist beeindruckend. Gaëtan Seguin, eine Hälfte der Gründungsväter des Labels, nahm sich freundlicherweise die Zeit, auf meine Fragen zu antworten.
Wie kam es zur Gründung des Labels?
“Three:Four wurde 2008 zwischen Lausanne und Paris von Arnaud Guillet und mir gegründet. Zu Beginn legte das Label seinen Schwerpunkt auf serielle Projekte – Split 10″ und Kompilationen. Damals planten wir noch nicht, Alben zu veröffentlichen, sondern nur limitierte und handnummerierte Editionen von Künstlern, die wir schätzten, mit einem besonderen Augenmerk auf das physische Objekt. Im Jahr 2008 gab es viele Bands und Musiker, die noch ihre Musik in irgendeiner Form veröffentlicht hatten und wir dachten, wir können ihnen diese Möglichkeit eröffnen. Einige veröffentlichten ihre erste Platte auf three:four records : Amen Dunes, the fun years, white/lichens, Matt Jencik, Silencio etc.2010 orientierte sich das Label neu auf das Veröffentlichen von Alben und nur der Lausanner Zweig blieb bis 2017 aktiv, bis Maxime Guitton, Musikveranstalter und Gründer der ali_fib Konzertserie in Paris miteinstieg. Da wir beide einen Fulltime-Job und Familie haben, betreiben wir three:four in unserer Freizeit.”
Seid ihr selbst Musiker? “Ich spielte Schlagzeug in meinen Zwanzigern, Maxime hingegen war gar ein klassisch-geschulter Pianist in seiner Teenagerzeit, aber wir beide haben das Spielen komplett eingestellt und fühlen uns wohler, Musiker zu unterstützen.”
Lausanne hat einen Ruf, ziemlich fortschrittlich im Unterstützen von interdisziplinärer Kunst zu sein. Eine Gruppe wie Velma hat z. B. auch mit Tanztheatern zusammengearbeitet und das Publikum scheint offener als anderswo in der Schweiz zu sein. Was sind deine Erfahrungen? ” Für eine relativ kleine Stadt ist das kulturelle Angebot sehr gut und es gibt einige Möglichkeiten mit anderen Diziplinen zu kollaborieren. Allgemein gesagt, genießen es die Leute Festivals zu besuchen, sogar die sehr spezialisierten wie LUFF, aber es is auch wahr, dass viele Konzerte nur sehr wenig Publikum anzieht. Alles in Allem würde ich sagen, dass das Lausanner Publikum offen ist ohne allerdings die abseitigen, kleinen Konzerte zu unterstützen.”
Nach welchen Kriterien wählt ihr aus, ob ihr eine Platte mit einem Künstler machen wollt?
” Natürlich ist die musikalische Qualität ein entscheidendes Kriterium, aber das ist nicht ausreichend. Wenn wir genau auf das graphische Design achten, sind wir auch sehr mit der Person hinter dem Küntler verbunden. Grundsätzlich basiert unsere Arbeitsweise auf Vertrauen. Wir bevorzugen es die Hände zu schütteln anstatt einen Vertrag zu unterschreiben, um es so auszudrücken.”
Wie stößt ihr auf die Musik, die ihr produzieren wollt?
” Meistens stoßen wir auf neue Musik ganz einfach durch unsere Netzwerke: Freunde, Freunde von Freunden. Es hat sich unter den Musikern herumgesprochen, dass three:four einen einen gurten Ruf hat und das macht sich für uns positiv bemerkbar.”
Arbeitet ihr bei den Produktionen Hand in Hand mit den Musikern oder ist es eher der Fall, dass ihr das fertige Resultat zum Veröffentlichen bekommt?
” Es ist selten, dass wir schon bei den Aufnahmen und beim Mixen einbezogen werden, da das meistens schon gemacht wurde. Abgesehen von diesem Aspekt, kommt es wirklich auf den Künstler an. Manchmal sind sie komplett autonom und haben eine klare Idee, was sie wollen: sie kommen dann zu uns mit einem speziellen Artwork und die Trackliste ist auch schon komplett; andere haben nur eine Idee im Kopf und der Graphikdesigner arbeitet dann mit dieser Idee. Es kommt auch vor, dass Musiker sich mehr auf uns stützen und uns nach unserer Meinung bei den Mixes, der Titelfolge, dem Sequencing, dem Design oder dem Layout fragen. Für uns sind all diese Möglichkeiten ok, solange die Künstler das letzte Wort über das Artwork und das Mastering haben und glücklich mit dem ganzen Ablauf sind.”
Trotz der Globalisierung, auch im Bereich der Undergroundmusic, scheinen bestimmte Städte immer noch für eine spezielle Art von Musik zu stehen wie z.B. Lissabon oder Brüssel. Was ist deine Meinung?
” Ich würde nicht sagen, dass diese Städte einen speziellen einheitlichen Klang haben, aber es gibt etwas Spezielles. In Lissabon zum Beispielt gibt es viele Möglichkeiten für einheimische Musiker zusammen oder mit anderen Künstlern aus der ganzen Welt zusammen zu spielen, die ein paar Tage, Wochen oder Monate in der Stadt verbringen. Es ist offensichtlich, dass von dieser intenstiven, aktiven Szene alle profitieren. Lausanne könnte auch solch eine Dynamik haben, da es eine gute Auswahl an Konzertsälen hat, vom intimsten Rahmen zu großen, aber bis auf wenige Ausnahmen, gibt es kein Zusammenwirken.”
Abgesehen von dem belgischen Kraak-Netzwerk scheint mir Three:Four Records momentan das offenste Label für zeitgenössische Musik zu sein. Wie könnt ihr mit dieser sehr exklusiven Ausrichtung überleben? Ist es möglich, Zuschüsse, z.B. vom Staat oder Kunststiftungen zu erhalten?
” Danke für Deine netten Worte. Es ist eine Ehre, mit Kraak verglichen zu werden, da das Label einer unserer größten Einflüsse war. Inzwischen ist es nicht besonders schwer Musik aus verschiedenen Ländern zu veröffentlichen: es braucht einfach ein Netzwerk. Aber nicht einer speziellen Szene, insbesondere einer lokalen, angeschlossen zu sein, kann bezüglich der Aufmerksamkeit problematisch sein, ganz davon abgesehen wie wichtig es für uns ist unsere Neugier über die Grenzen auszuweiten und unsere eigene Gemeinschaft, unsere eigene transnationale Szene zu unterhalten. Die Wahrheit ist, wir verkaufen wenige Platten in der Schweiz und in Lausanne im Speziellen. Bis jetzt haben wir uns nie um eine fiananzielle Unterstützung bemüh. Wie schon erwähnt, betreiben wir das Label nebenher und ich habe mich immer unwohl dabei gefühlt, um Geld für unsere Freizeitbeschäftigung zu fragen. Was zählt, ist, dass unsere Verkäufe unsere nächsten Alben finanzieren können. Da unsere derzeitige finanzielle Situation die ist, die sie ist, wissen wir nicht wirklich, was das Jahr 2019 bringen wird.”
Wie könnte ihr euren Katalog vertreiben? ” Wir arbeiten mit a-musik in Deutschland und The Business in den USA zusammen. Beides sind Schallplattenläden, Postversände und Vertriebe, die von wunderbaren, leidenschaftlichen Leuten betrieben werden. Wir arbeiten auch mit Metamkine in Frankreich, die einige speziellen Titel unseres Back-Catalgoues anbieten und Mbari in Portugal für die Norberto Lobo – Alben zusammen. Kürzlich kam Soundhom in Italien dazu.”
Zurzeit gibt es ein großes Interesse an Musik, die vor dreißig oder vierzig Jahre veröffentlicht wurde und viele Labels spezialisieren sich auf Re-Releases. Was denkst du von dieser Sehnsucht an Vergangenem? Three:Four Records dagegen bewegt sehr in der Gegenwart. Könntet ihr euch vorstellen, irgendwelche vergriffene Underground-Klassiker wiederzuveröffentlichen?
” Das ist eine interessante Frage. Einige Jahre zuvor, als Maxime zum Label dazukam, haben wir uns tatsächlich für einen kurzen Moment vorgestellt, eine Abteilung unseres Kataloges out-of-print Platten, die wichtig für uns waren von Künstlern wie Giovanni Venosta oder Gilius van Bergeijk, um nur einige zu nennen, zu widmen. Aber dann haben wir uns entschieden, uns auf die jetzige Welt, in der wir leben, zu fokusieren und eine wachsende Zahl von Künstlern, die jetzt aktiv sind, zu unterstützen. Der Re-issue – Markt ist tatsächlich ein anderer Planet mit seinen eigenen Qualitäten – die politische Geste, verlorene Juwelen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen – und Fallen – den Sinn für Relevanz und Kuration zu verlieren, den spekulativen Nischenmarkt zu füttern etc.”
Wie sieht das Verhältnis von physischen/digitalen Verkäufen der Platten aus?
” Momentan verkaufen wir mehr physische als digitale Alben, aber wir können klar sehen, dass, speziell seit Anfang Jahr, der digitale Markt schnell wächst.”
Wie ist eure Erfahrung mit Verkaufsplattformen wie Bandcamp, Soundcloud etc.?
” Wir nutzen Bandcamp und Soundcloud. Bandcamp ist großartig und sehr unterstützend, was die Verkäufe, sowohl von digitalen wie physichen Veröffentlichungen anbelangt, aber Soundcloud bietet mehr Flexibilität für das private Streaming an.”
Denkst du, dass die Nachfrage an Vinylplatten weiter steigen wird?
“Nein.”
Wie ist es um die Fanzine-Szene bestellt? Denkst Du, kleine Publikationen haben weiter Einfluss oder kanalisiert sich die ganze Undergroundszene in The Wire?
” Fanzines scheinen weniger einflussreich zu sein, als noch vor ein paar Jahren und The Wire ist definitv eine Hauptreferenz und sehr wichtig. Wenn ich dir auch nicht sagen kann, dass eine gute Kritik irgendeinen Einfluss auf die Verkaufszahlen hat, ist ein einseitiger Artikel in The Wire ist aber immer noch entscheidend dafür, Gigs organisieren zu können. In letzter Zeit scheint es mir, dass es zunehmend schwerer, wenn nicht gar unmöglich wird, eine Besprechung ohne Presseagenten (den wir uns unglücklicherweise nicht leisten können) zu bekommen.”
Arbeitet Three:Four Records in der Schweiz mit gleichgesinnten Veranstaltern oder Läden zusammen?
” Unglücklicherweise haben wir nicht genug Zeit dafür, Konzerte für unsere Künstler zu buchen. Aber wir haben gute Beziehungen zu einem Netzwerk in Europa und wir tun unser Bestes unseren Künstlern zu helfen. Ich versuche immer Konzerte in Lausanne zu buchen, während Maxime ein gutes Netzwerk in Frankreich hat. L’association du Salopard, die Konzerte im Le Bourg (Lausanne) veranstalten, Bad Bonn (Düdingen), Cave12 (Geneve) oder l’Oblo (Lausanne) sind Leute, mit denen wir es lieben in der Schweiz zusammenzuarbeiten. Wir haben auch besondere Kontakte zu Les Ateliers Claus in Brüssel oder zum ZDB in Lissabon.”
Ist es weiterhin schwierig über die Sprachgrenzen hinauszudenken?
” Außer Bad Bonn und zu ein oder zwei Plattenläden im deutschsprachigen Raum der Schweiz haben wir sehr wenig Kontakte. Und es gibt nur sehr wenige Bands, die in anderen Teilen der Schweiz spielen können. Natürlich, jeder Teil ist mehr verbunden mit der Szene, die die gleiche Sprache und Kultur teilt, aber ich habe das Gefühl, dass die junge Generation von Promotern und Musikern mehr und mehr zusammenarbeiten.”
Wahrscheinlich presst ihr eure Veröffentlichungen nur in kleinen Auflagen; Norberto Lobo andereseits scheint so etwas wie ein “Bestseller” zu sein, so findet man dessen Platten z.B. in fast jedem Laden in Portugal? “Gewöhnlich pressen wir 300 Exemplare pro Veröffentlichung, außer Norberto Lobo und La Tène, unsere beiden Best Sellers.”
Kannst du etwas über die nächsten Schritte von Three:Four Records sagen?
” three:four records wird 2019 zehn Jahre alt und wir haben verschiedene Ideen, das zu feiern. Wir werden versuchen, unseren Vertrieb und die Präsenz zu verbessern, insbesondere in Europa. Aber, sehr wahrscheinlich, werden wir nur sehr wenige Alben 2019 veröffentlichen.”
Einige Höhepunkte aus dem Labelkatalog:
Anahita – Tourmaline
Helena Espavall und Tara Burke, beide als Solistinnen und in unterschiedlichen introspektiven Free-Folk Formationen aktiv (Espers, Beautify Junkyards, Fursaxa) trafen sich in den Sommermonaten 2010 und 2011, um eine betörend außerweltliche Platte einzuspielen, die die Affinitäten der beiden Musikerinnen – z.B. Mircea Eliade, Hildegard von Bingen, Minimalismus, Renaissance, Kraut, archaische Folkmusik, Drones – in einen ruhigen, geisterhaften Soundtrack für die Vollmondnächte kleidet.
Le Freut Vert – Paon Perdu
Marie-Douce St. Jaques und Andrea-Jane Cornell, ein Duo aus Montreal, begibt sich mit seiner Musik auf die Spuren von solch uneinkategorisierbaren musikalischen Freigeistern wie Un Drame Musical Instantané, Pied De Poule oder Hèléne Sage, also der Creme de la Creme des Pariser GRRR – Labels und deren genialen, intellektuellen Mischung aus Avantgarde, Jazz, Klassik (Lied) und surrealen Chansons. Die große Kunst, Anspruch mit verquerer Zugänglichkeit in Einklang zu bringen, gelingt ihnen auf spielende Weise.
Riccardo Dillon Wanke – Cuts
Die Platte von Riccardo Dillon Wanke für Three:Four Records ist thematisch zweigeteilt. Die erste Seite beruft sich auf literarische Quellen und la puerta condenada explzit auf Das kurze Leben, den bekanntesten Roman von Julio Cortázar. Dillon gestaltet die dramatisch-erzählerischen Songs mit Electronics, Synthesizern und preparierter Gitarren im Stile eines experimentellen Alleskönners wie John Parish. Die kürzeren Songs auf der zweiten Seite stehen eher in der Tradition von improvisierter Musik und zeigen eine andere Seite des zwischen Hamburg und Lissabon pendelnden italienischen Musikers.
Amute – Savage Bliss
Amute aka Jérôme Deuson gibt sich auf Savage Bliss gewohnt düster-opulent. Nach einem elegischen Einstieg nimmt der Melancholieschweregrad an Fahrt auf und die Musik neigt zum Bombastischen. Deusons Musik ist, weiß man die jeweiligen Linernotes entsprechend zu deuten, immer auch eine Art Tagebuch, ein Travelogue über die meist schwierigen und dramatischen Begebenheiten des (seines)Lebens.
Denki Udon – ZDB
Norberto Lobo hat sich durch seine, inzwischen zahlreichen, Veröffentlichungen, Solo- und mit unterschiedlichsten Bands, einen Namen in Portugal erspielt. Auch die drei Solo – Alben auf Three:Four sind im Rahmen der bescheidenen Auflagen eines Avantgarde-Labels vergleichsweise Bestseller. Mit Giovanni Di Domenico (Fender Rhodes) und Tatsuhisa Yamamoto (drums) gibt es von Lobo auch eine stilistisch aus dem Rahmen fallende Aufnahme eines Konzertes, das im ZDB mitgeschnitten wurde. Hier machen sich die drei Musiker zu einer sphärisch verschwurbelten Himmelsfahrt auf, bei der Fusion, Blues und Rockelemente keine Schimpfworte sind, sondern probate musikalische Genres, um dem Wahnsinn in ein Korsett zu stecken, das sozusagen der Grenzenlosigkeit Grenzen setzt, um sich nicht komplett der Schwerelosigkeit hinzugeben.
Filipe Felizardo – The Invading Past and Other Dissolutions
FF gehört zur jungen Garde von talentierten Gitarristen in Portugal, die vortrefflich traditionelle mit zeitgenössischen Einflüssen in ihrer Musik verbinden. Die ruhige, selbstvertändlich melancholisch-inspirierte, und gelassen wirkende Schönheit der instrumentalen Gitarrenmusik eines Carlos Paredes hat einen ernormen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen ausgeübt, so auch bei FF. Filigrane, getragene Melodien wechseln sich mit Ausflügen in den Noise ab, und alles passt wunderbar zusammen.
Razen – The Xvoto Reels
Razens “hardcore melodic minimalism & raw dystopian deep listening” – Kompostionen werden mit The Xvoto Reels um ein weiteres Kapitel erweitert. In einer Kirche aufgenommen, wo es bei den Aufahmen zu einigen Merkwürdigkeiten gekommen sein soll – phantomhafte, zusätzliche Klänge bzw. Aussetzer, irgendwo aus dem Hall und Echo der akustischen Begebenheiten der Kirche enstanden, sind auf dem Tape zu finden – verstärken den andersweltlichen Geist, der der Musik von Razen immer irgendwie innewohnt, noch mehr. Eine der wegweisendsten musikalischen Formationen derzeit, fraglos.
Aus früheren mikrowellen Reviews:
Ruth – Far From Paradise
http://www.mikro-wellen.net/wordpress/ripples-januar-2013/
Eloïse Decazes & Eric Chenaux – La Bride
http://www.mikro-wellen.net/wordpress/ripples-may-2017/
Mehr Infos:
Ripples May 2017
May 1st, 2017
Eloïse Decazes & Eric Chenaux – La Bride
Die Pariserin Eloïse Decazes und der Kanadier Eric Chenaux – beides kreativ äußerst umtriebige Zeitgenossen – hattten mit ihrem brillianten Debut als Duo die Ehre den Startschuss für Philippe Delvosalles Okraïna – Label zu geben. Nun erscheint der Nachfolger auf dem gleichsam empfehlenswerten Lausanner Label Three : Four Records. Decazes und Chenaux; das ist ein eingenwilliges Duo: Die Lieder/Chansons, die ihnen als Rohmaterial für Experimente und Entfremdungen dienen, haben ihren Ursprung teilweise im Mittelalter – einige zeitgenössische Quellen wie Areski sind die Ausnahme – und werden entkernt und zu etwas Zeitlosem metamorphisiert: Eine halluzinierende Musik, die letztendlich zu gebrochen und abstrakt ist, um noch in das Genre Folk oder Songwritertum zu passen. Chenaux, eng mit dem zwischen Konvention und Experiment schwankenden Constellation-Label verbunden, geht hier andere Wege und entfernt sich weitgehend von der Rolle des “klassischen” Gitarristen. Decazes gibt sich vergleichsweise zahm mit ihrem Projekt Arlt (mit Sing Sing), aber zeigt außer mit Chenaux vor allem auch in Verbindung mit Delphine Dora aus welchem Holz sie geschnitzt ist, Die Interpretationen von Berios Folksyklus suchen bezüglich Abenteuerlust und Subtiliät ihresgleichen.
La Bride greift die Tradition von experimentellen französischen Chansoniers / Chanteusen, die in den Siebzigern mit Brigitte Fontaine/Areski oder Laurence Vanay begann und in den Achzigern von, u.a. Jac Berrocal (Hotel Hotel), Sophie Jausserand/Guigou Chenevier (A L’Abri des Micro-Climats)oder Hélène Sage weitergeführt wurde, auf und begeht doch wieder andere Wege. Die Gitarre eiert psychedelisch-brüchig, irgendwelche Überbleibsel von Blues- oder Folksongs werden zu Partikeln zerlegt und dann wieder zu Drones zusammengeleimt. Eloïse Decazes interpretiert und rezitiert ihre Geschichten von heute und aus einer anderen Zeit in einer Weise, die an eine etwas unheimliche, moderne Moritatensängerin denken lässt. Sanfheit wird zu Abstraktheit, Sophistication wechselt zum Nicht-Fassbaren und teilweise bedarf er überhaupt keiner musikalischen Unterstützung mehr, weder Leierkasten noch Saiteninstrument.
Three:Four Records