Eric’s, Urban Decay, Writing On The Wall

Als Roger Eagle im Oktober 1976 mit Ken Testi den Club Eric’s eröffnete (später kam Pete Fulwell dazu), war noch nicht abzusehen, welchen Einfluss – nicht nur auf die Mersey-Side-Szene – das Kellerlokal in der Historie des Punks- und Postpunks haben sollte.
Eigentlich Süd-Engländer, machte sich Eagle in Manchester in den frühen sechzigern Jahren des letzten Jahrhunderts einen Namen als DJ und bekam die Entwicklung des Northern Soul hautnah mit. Er vermittelte dann auch Bands – unter anderem für die Konzerthalle The Stadium in Liverpool – und produzierte eines der ersten Musikfanzines überhaupt, namens The Last Trumpet. Eagle zog dann selbst an den Mersey und beeinflusste die dortige Szene nachhaltig. Als großer Reaggaefan  und – Kenner sah er die Verbindung zur aufkommenden Punk/New Wave-Explosion, die in Liverpool auch noch mit den Einflüssen aus der eigenen Vergangenheit und denen, die in die Hafenstadt von außen hineingetragen wurden, gekoppelt war, voraus. Etwas außerhalb des Stadtzentrum, in den Straßen um den Sefton-Park, lebte die Bohème das Leben des Künstlerdaseins und verfolgte einen ganz anderen Lebensentwurf als diejenigen, die in den harten Innercitystreets sozusagen um das eigene Überleben kämpften.

 

Die Mathew-Street im Herzen Liverpools ist unweigerlich und für alle Zeit mit The Cavern, den Fab Four und dem Mersey-Beat verknüpft. In den siebziger Jahren gab es dort aber auch andere Anlaufpunkte wie z.B. das von einigen Freunden in einer ehemaligen Lagerhalle, die den alternativen Markt Aunt Twackers beherbergte, ins Leben gerufene kreativ-unkommerzielle Zentrum namens The Liverpool School of Language, Music, Dance & Pun: Dabei handelte es sich um eine geniale Mischung aus Art School und Teestube, wo sich die späteren Protagonisten des Liverpool New Waves die Zeit vertreiben und über waghalsige Projekte fabulieren konnten. Dies war ein sehr “freier” Ort, es konnte alles oder nichts geschehen, große Pläne ausgeheckt und verworfen werden. Man bewarb sich für ein Stipendium und studierte Theater, Musik oder Film, und, konnte die Zeit entweder verträumen oder die Welt verändern.

Carl Gustav Jung beschrieb in einem seiner esoterisch-mysthischen Traumprotokolle die Stadt Liverpool. Obwohl er nie dort gewesen war, schienen die Details der Straßenbeschreibungen genau auf die Stadt im allgemeinen und die Mathew Street – Gegend im Speziellen zuzutreffen. Dazu die detailiert geschilderte Atmosphäre einer nassen Nacht: Düster, dreckig, heruntergekommen; die Stimmung einer Stadt mit großem Hafen im Niedergang, die nur zugut das tatsächliche Liverpool in den siebzigern Jahren zu beschreiben schien. Nur die eigene Kreativität hatte man da gegen das Siechtum entgegenzusetzen. Kurzerhand riefen einige der in der Liverpool School of Language, Music, Dance & Pun Abhängenden ein Jung Festival aus. Der Bürgermeister von Zürich wurde eingeladen (und kam!), und ein holprig-improvisiertes Programm mit Livebands in der Straße und schrägen, anarchischen Darbietungen wurde aufgeführt. Auch fuhren zwei Kunststudenten im Vorfeld mit dem Auto von Liverpool nach Basel, um von Jung persönlich einen Stein, der ursprünglich für den Bau eines Turms auf dessen Grundstück dienen sollte, entgegenzunehmen und nach Liverpool zu transportieren, mit dem Text von Jungs Liverpool-Traum bearbeiten zu lassen und beim Festival zu präsentieren. Der Stein wurde dann in eine Wand eingesetzt.
Ebenfalls in der Mathew Street eröffneten Geoff und Annie Davies 1976, nachdem sie schon seit 1971 in einer anderen Gegend der Stadt aktiv gewesen waren, den Probe Records Shop, der, eng verbunden mit der aufblühenden Szene um Eric’s ein gleichermaßen eklektisches Sortiment anbot und  großen Einfluss ausüben sollte. Später kam das Label hinzu – Half Man Half Biscuit wurde zu treuen Hausband. Über die Jahre musste der Laden mehrmals umziehen und trotzdem existiert Probe auch heute noch; nun in unmittelbarer Nachbarshaft zum Blue Coat, einem der ältesten Kulturoasen von ganz Großbritannien.

Zwischen Oktober 1976 und der überraschenden Schließung nach einem ominösen Polizeieinsatz im März 1980 (wobei manche Eingeweihten behaupteten, der eigenliche Grund für die Aufgabe des Clubs wäre finanzieller Natur gewesen, da der enge Kreis der 50 treuen Stammgäste die Ausgaben langfristig nicht decken konnte) war Roger Eagles Eric’s stilprägend und einzigartig. Früher ging man in die Disco, ein Musikclub mit einem ausgesuchten Programm zwischen Punk, New Wave, Reaggae oder aber auch Jazz hatte zuvor keine Vorläufer, geschweige denn Tradition. Auch das Zusammenführen von lokalen  mit bekannteren, wegweisenden Bands war etwas Neues und wirkte in Liverpool als Initialzündung für  Leute wie Jayne Casey, Pete Burns, Mike Badger, Bill Drummond, Julian Cope, Ian McCulloch oder Pete Wylie, die dort abhingen, von Eagle zum Musikmachen animiert wurden und dann später tatsächlich oft selbst auf der Bühne standen.
In der Stadt war in dieser Zeit die Stimmung eine desperate und angespannte: der Niedergang der Docks und anderer Industrien wirkte sich krass aus. Massenarbeitslogikeit, Streiks, extreme Armut, Verwahrlosung waren die Folge, aber auch Widerstand und Solidarität waren in der Stadt zu spüren. Ein Jahr später, 1981 im Juni, sollten die Toxteth – Riots die Stadt nochmals radikal verändern ; die Auswirkungen sollten bis nach Brixton und Birmingham ausstrahlen. Gleichzeitig bewirkten die Missstände auch eine enorm kreative und unkonventionelle Reaktion, die von der Musik- bis zur Modeszene reichte. Thatcher erfand als Gegenmittel, sowohl des Aufbegehrens wie auch der damit einhergehenden Anarchie und Solidarität, den Posten des “Special Minister” und besetzte diesen mit Michael Heseltine, der, “too little too late” auf Tourismus, Wiederaufbau und Freizeitangebote als Gegenmittel zur allgemeinen Verarmung der Bevölkerung setzte und mit allen Mitteln versuchte, den Widerstand zu brechen.
2011 wurde an gleicher Stelle in der Mathew Street Eric’s neueröffnet und kurze Zeit wieder geschlossen. Obwohl die wirtschaftliche Situation – nach einem vermeintlichen Aufschwung, befeuert durch Immobilien und Billigjobs – in Zeiten des Austeritätsprogramms beinahe wieder vergleichbar mit jener in den Siebzigern war (und ist) und die Reaktionen mit dem Sprießen von DIY-Shops und alternativen Versuchen abseits des Hipstertums spürbar ist, hatte die Neuauflage außer dem Namen keine Relevanz. Die Schnittstellen derjenigen, die etwas zur prekären Lage zu sagen haben, sind nun anderswo in der Stadt zu finden.

 

Liverpool 8 und andere Orte

Auch in Toxteth, Liverpool 8 – unter diese Postleitzahl fällt übrigens nicht nur Toxteth, sondern auch der Queens Park und ein Teil des Georgian Quarters – hat sich vieles verändert, aber manche Grundprobleme eben nicht: Immer noch stößt man allerorts auf Brachflächen, Verwahrlosung und Missstände, aber die Einwohner entwerfen wie eh und jeh Gegenmodelle wie z.B. Urban Gardening-Projekte oder unkommerzielle Treffpunkte. Von Gentifizierung kann man noch kaum reden, aber wer weiß was die Zukunft bringen wird. Was die sozialen Brennpunkte anbelangt, gibt es jedenfalls weit prekärere Viertel in der Stadt wie Norris Green oder Croxteth am Stadtrand oder Kensington, nicht weit von der Universität entfernt.

Von den Everton Heights, vor einigen Jahren runderneuert und mit feinen Gartenanlagen versehen, die maroden Tower Blocks aus den Sechzigern zum größtein Teil niedergewalzt, hat man den besten Blick auf den River Mersey und die sich ständig erweiterende und verdichtende Sky-Line der Innenstadt. Neben den Three Grands kann man immer mehr Glastürme und Hochhäuser ausmachen, rechts sieht man wie der Fluß in die Irische See mündet und auf die Windränder der ausgebluteten Docks von Bootle. Everton, Walton und Anfield gehören zu den ärmsten Vierteln der Stadt, trotz allem Fußballreichtum und dem ebenfalls renovierten Stanley – Park in der Mitte. Die Atomosphäre ist wie aus einer anderen Zeit, klassische englische Reihenhaussiedlungen, alle mit dem typischen roten Backstein erstellt und mit unterschiedlich farbigem Anstrich. Wie auch in Kensington oder Edge Hill sind viele boarded- oder bricked-up. Der Wind treibt Zeitungsblätter durch die Straßen, eine Ecke weiter wirkt die Stille irritierend. Ein Erinnerungsmosaik.

Vauxhall, wo sich die irischen Einwanderer zum größten Teil ansiedelten, galt mit seinen engen Tenaments als großer Slum. Heute ist die Hauptachse, die Scotland Road, Tag und Nacht dicht befahren und durchfräst den Stadtteil wie auch die Einfahrten zu den Merseytunnels. Regeneration- Zones sind seit Jahrzehnten ausgeschrieben, und ganz allmählich kann man das eine oder andere Bauprojekt, wenn es auch nur ein Supermarkt sein sollte, ausmachen. Ansonsten wirkt die Gegend weiterhin wie eine Mischung aus Geisterstadt und etwas Bedrohlichem. Die Innenstadt – auch dort gab es in Teilen einen Jahrzehnte andauernden Verfall – sind entweder mit gigantischen Shopping-Projekten wie Liverpool 1 komplett verändert worden oder haben wie die Neo-Griechischen, klassizistischen Bauten ihre etwas deplazierte, aber zeitlose Würde bewahrt. Die St. Georges Hall oder die Walker Art Gallery beispielsweise gehören in gleichem Maße zum unverwüstlichen Stadtbild wie die Liverbirds oder der Pier Head. Das ehemalige Business-Viertel Moorfield mit seiner grandiosen Mischung aus klassischer Architektur, Pubs, Clubs und Kunst scheint gleichfalls unantastbar wie die Hope Street zwischen den beiden Gotteshäusern.  Das Everyman Theatre und Bistro oder die Philharmonic Hall und  das gleichnamige Pub haben ebenfalls die Zeit überdauert.

Writing on the Wall

WOW, 2017 in seinem achzehnten Jahr, ist ein alternatives Literaturfestival (das aber auch vom Britisch Arts Council unterstüzt wird) und neben dem poetischen auch einen politischen Anspruch hat. Auch ist die Verbindung von internationalen und lokalen Autoren nicht alltäglich. Liverpool birgt mit seiner Geschichte und seinen enormen Konstrasten unerschöpfliche Reize und Geheimnisse, die viele dazu animiert, auf ihr Umfeld schriftstellerisch (oder anderweitig) zu reagieren. Von der Generation, die mit oder nach den Riots aufgewachsen ist, machten sich an der Schnittstelle von Underground- und etablierter Kultur vor allem drei Autoren von der Merseyside einen Namen. Kevin Sampson, Helen Walsh und Niall Griffiths. Das Trio übte auch einen enormen Einfluss darauf aus, wie die Stadt abseits der Tourist Board – Broschüren wahrgenommen wird.
Kevin Sampson schrieb in den Achzigern für angesagte Publikationen der Jugendkultur wie NME, The Face ID, aber auch für den Observer. In den Neunzigern kehrte er von London an die Merseyside zurück und managte im Umfeld von Acid House-Hype und dem Club Cream The Farm, bevor er begann, Romane zu schreiben.  Mit Awaydays – einer Geschichte, die im Umfeld von Tranmere Rovers-Hooligans spielt, landete er einen riesigen Erfolg. Die merkwürdige Verbindung von Streetculture, Kleidern und Gewalt wird authentisch – aus eigener Erfahrung – in eine Story um Freundschaft und Liebe eingebettet. Die nachfolgenden Bücher, die die Riots und Post-Punk (Stars are Stars), Gangstertum (Clubland) oder das Universitätsleben (Freshers) als Background behandelten, untermauerten Sampsons Ruf authentisch die Sprache der Stadt und den zahlreichen Subkulturen zu sprechen.

Weit weniger konventionell begann Helen Walsh ihre schrifstellerische Berufung in die Tat umzusetzen. Mit Brass, einem explosiven Debut, das, im Scouse-Slang geschrieben, auch eine gewisse Bereitschaft des Lesers fürs Entkrypitisieren voraussetzt, beschreibt sie die Szene um das Universitätsviertel und die Drogen/Prostitutionsszene um die Kathedrale.

Die neue Boheme trifft dabei auf die immer noch in äußerst prekären Umständen lebende Working Class.
Drastisch und in einer Sprache, die sich selbst wie ein Drogenrausch liest. Die folgenden Bücher von Helen Walsh sind formal konventioneller geschrieben – Once Upon A Time in England ist im weitgehentsten Sinn eine Familiengeschichte und trägt auch autobiographische Züge. Go To Sleep, die Schilderung einer postnatalen Depression, die sich durch monatelange Schlaflosigkeit zu einem seelischen Zusammenbruch auswächst, ebenfalls. Parallel dazu schildert sie eindrücklich die Arbeit der Protagonistin, einer Sozialarbeiterin im harten Liverpooler Norden. Beim WOW—Festival diskutierte sie nach einer Lesung vor leider nur einer handvoll Zuhörern im beliebten Everyman’s Bistro über Go To Sleep und ihren eigenen Werdegang. Walsh lebt mittlerweile in The Wirral, auf der anderen Seite von Liverpool, mit Kevin Sampson zusammen. Ihre Hauptthemen – Genderdebatten, Drogenpolitik, Sexualität, Klassengesellschaft – tauchen auch in Lemon Grove, einer weiteren Familiengeschichte, bei der sich nach und nach die Positionen verschieben (Ehepaar, Stieftochter, Freund) wieder auf.
Inzwischen wechselte sie für ein Projekt auch ins Filmfach. The Violators behandelt die gleichen Themen wie ihre Romane. In einer Sozialhaussiedlung hat sich die Hauptdarstellerin (Lauren McQueen)gegen Einschüchterungen und Missbrauch zu wehren. Sie trifft auf eine mysteriösen Fremde (Brogan Ellis), die sie zu verfolgen scheint, und die, ähnliche Probleme, aus der Oberschicht stammt und mehr in die Geschichte verflochten ist als man zuerst erahnen konnte.

Meist drastisch-poetisch geht es auch bei Niall Griffiths, der in Liverpool aufwuchs, zwischenzeitlich mit seinen Eltern nach Australien auswanderte und nun in Nord-Wales lebt, zu: Grits, Sheepshagger oder Wreckage verleitete die Kritiker Griffiths mit zeitgeistigen britischen Autoren in einen Topf zu werfen, wobei spätestens Kelly & Victor, eine intensive, auf gefährliche Weise romantische Liebesgeschichte inmitten einer rauen Stadt namens Liverpool im Umbruch zwischen Tradition und unsicherer Zukunft, und seine Reiseführer, beweisen sollten, dass man es hier mit einem über seinen eigenen Tellerrand hinausblickenden Autoren zu tun hat.