Ripples September 2011

September 9th, 2011

The Wild Swans – The Coldest Winter For A Hundred Years

Liverpool, jahrzehntelang traumatisiertes Epizentrum des weitgreifenden industriellen Niedergangs Großbritanniens, mit einer größeren Völkerabwanderung als jede andere Stadt, übt sich seit einiger Zeit in der gigantisch angelegten Stadterneuerung: Shopping Malls anstelle von zugenagelten Innenstadthäusern, Luxusapartments in den lange dahinsiechenden Docks, Museen und Spektakel als Begleitung zu den 800-Jahre– und Kulturhauptstadt 2008 – Feiern, Phönix rückt den Liverbirds aufs Gefieder. Der “Regeneration” fallen aber auch eine halbe Million, zum Teil noch bestens erhaltener Wohnhäuser, die jahrelang leerstanden und zu Spekulationsobjekten wurden, architektonisch stilprägende Kaufhäuser und kulturelle Einrichtungen zum Opfer. Nach Ladenschluss torkeln die Besoffenen und die Obdachlosen nun durch das neue Glitzerparadies und lassen sich dabei vom freundlichen Summen der sich auto-justierenden CCTV-Kameras begleiten.

Paul Simpson beklagt die zunehmend velorengehende kulturelle Identität, die sich seit den 1960ern über ein kreatives Außenseitertum definierte, die Stadt prägte und einzigartig dastehen ließ. Diesmal die Demütigungen unfähiger Produzenten vermeidend, ist The Coldest Winter For A Hundred Years nun das stark autobiographisch beinflusste Wild Swans-Album geworden, wie es gedacht und lange angekündigt war. Während der andere große Chronist Liverpools seit den 1980ern Michael Head aus einer stark introspektivistischen Sichtweise abstrakter textet, schreibt Paul Simpson neben persönlichen Stücken über Jugend, familiäre Lebensläufe und Freundschaften auch über die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen (zum Guten? Zum Schlechten?):  die 80er-Jahre Punkzeit, die Riots, architektonische Verwahrlosung; Texte, die teilweise auch für einen Gedichtband bzw. einer Biographie konzipiert waren. Desperation (‘My town used to fill my head with wonder, yeah / now it fills me with disgust/…And a grimmer time I can’t recall / Like ancient Rome we start to fall/ Like Ringo, John and George and Paul / It’s breathed its last / it’s dead / it’s over now ) und anarchischer Widerstand ( ‘ Once, all this was silver birch / Scots pine and English yew / Hawthorn where Aldi stands / Come now, we can plant anew / And crack wide Tesco’s aisles / With acorns from the ground / Quintillions of sacred atoms cluster and collide’ ) halten sich die Waage und die Musik bewegt sich ebenso zwischen diesen emotionalen Polen, zwischen klassischen Mersey-Beat-Hymnen für die Jetztzeit und zeitlosem Folk, zwischem ironischem Pathos und coolen Understatement.

The Wild Swans

Mikrowellen

Occultation Records