Ripples
March 17th, 2024
Outfest 2023 – Festival Internacional de Música Exploratória do Barreiro
Zum neunzehnten Mal ist die nicht mehr ganz aber doch noch weitgehend ungentrifizierte ehemalige Industrie- und Arbeiterstadt Barreiro für vier Tage im Oktober Zentrum für ein unkonventionelles, in alle Richtungen offenes Musikprogramm, veranstaltet vom Out.Ra – Kollektiv.
Neue Musik (- Pioniere), experimentelle Elektronik, Afro-Jazz, alternativer Hip Hop, Dub und sogar Black Metal; vieles ist hier möglich. Traditionell liegt der Schwerpunkt auf dem einheimischen Musikschaffen, auch mit der Absicht, Kontakte untereinander herzustellen oder zu vertiefen.
Out.ra (“das Andere”) ist der Trägerverein, der unter dem Direktor Rui Pedro Damasio neben dem Outfest im Oktober auch das experimentelle Filmmusikfestival Sónica Ekrano und zahlreiche Einzelveranstaltungen an oft sehr aussergewöhnlichen Stätten der post-industriellen Überbleibseln in Barreiro veranstaltet. Den Weg über den Fluss zu den Konzerten finden natürlich auch die in der Metropolis lebenden, an ungewöhnlichen Klängen Interessierten Beim Festival trifft man aber auch sympathischerweise auf neugierige Einwohner, die ansonsten nicht soviel am Hut mit schrägen Klängen haben dürften.
Nach der Pandemie ist das Geld noch knapper als gewohnt und die Zahl der Sponsoren für Musik, die sich gewöhnlich unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit ansiedelt, ist überschaubar. Das tut dem Geist des Festivals allerdings keinen Abbruch und der charmnante und familiäre Charakter hebt sich von vielen anderen, schon kommerziell durchgetakteten Veranstaltungen wie Le Guess Who? oder Moers wohltuend ab.
Die Ateliers der Pada Studios sind inmitten des inzwischen teilweise unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Fabrikgeländes und der Arbeitersiedlung der Companhia União Fabril (CUF) situiert und bieten Künstlern eine inspirierende Umgebung, um Projekte entwickeln und realisieren zu können.
Unweit des Mausoleums des Gründervaters und industriellen Pioniers Alfredo Da Silva, der 1944 starb und mit seinen Unternehmungen Barreiro zum wichtigsten Indstriestandort Portugals machte, berfinden sich die besagten Wohnhäuser der Fabrikarbeiter, die heute unter dem Namen Baia Do Tejo weitere Ateliers, Musikräume und Kunstwerkstätten beherbergen. In einem Teil der Fabrikanlagen wird immer noch gearbeitet, aber die Zeit als hier Seifen, Kerzen, Pflanzenöle, Textilien, Tabak und anderes hergestellt und verarbeitet wurde sind definitiv vorbei. Die CUF existiert immer noch, allerdings als eine Kette für Privatkliniken.
Nach Sonnenuntergang verliere ich mich beinahe im riesigen Arreal, die dampfenden Schlote und die gespenstische Beleuchtung der noch fungierenden Textil-Fabrik weisen mir und anderen Herumirrenden aber dann doch den Weg.
Mit Mitgliedern aus den städtischen Musikschulen entwickelte der Neue Musik Pionier Alvin Curran für das abendliche Eröffnungskonzert in den Pada Studios eine neue Version eines seiner zentralen Stücke – Beams. Das anarchistische Gen des Freigeistes unter der Komponistenschar, die in den 1960er Jahren, die zeitgenössische klassische Musik auf den Kopf zu stellen versuchte, ist auch mit über achzig Jahren Lebensalter weiterhin intakt. Das Ensemble Musica Elettronica Viva sorgt in den 1960ern Jahren mit ihrer radikalen Auffassung, wie Musik zur Zeit klingen sollte, sogar für Tumulte. Später, als Curran sich in Rom niedergelassen hat, komponiert er stetig Stücke für Kammermusik bis zu grossen Ensembles, Stücke für das Radio wie für einzelne Instrumente. Curran experimentiert mit aussergewöhnlichen Tonquellen, Stimmen und neuen Technologien, und das oft mit einem in den elitären Kreisen verpönten Augenzwinkern.
Die in der Gallerie sich örtlich immer wieder neu verteilenden Musiker spielen neben tönenden Objekten wie z.B. Muscheln meist akustische- und Blasinstrumente und werden von Curran, der am Tisch stehend dem Midi-Keyboard und Computer Erstaunliches entlockt, bei dieser strukturierten Improvisation sachte dirigiert.
Ein gelungener Auftakt. Die Nachtstunden kann man dann im benachbarten A 4 verlängern; mit Rojin Sharafis strengen elektro-akustischen Exkursionen, die auch direkter Ausdruck der in Wien ansässigen Musikerin auf die Represalien sind, denen kritisch denkende Menschen in ihrem Heimatland Iran ausgesetzt sind, und dem in Lissabons Underground Musikszene nicht wegzudenkende Zé Moura und seinem luftigen Gebräu aus Dub, House und Noise.
Introspektiveres gibt es am darauffolgenden Nachmittag in der beeindruckenden Kirche Nossa Senhora do Rosário hören. Tiago Sousa präsentiert auf der Orgel und dem Piano die Premiere eines weiteren Stückes seiner Organic Music Tapes Serie. Zwischen Formen der Avantgarde und minimalistischen Anleihen angelegt, lässt es sich in diesem Ambiente tief in die Musik Sousas eintauchen. Die Schottin Brighde Chaimbeul ist derzeit auf vielen Festivals mit experimenteller Musik zu hören und ihr Stamminstrument – der Dudelsack – befreit sich durch ihre Kunst vom Image des Volkstümlichen. Chaimbeul bedient den scheinbar endlosen Kosmos des Obertönespektrums ganz vorbildlich.
Beim Outfest steht man permanent vor dem Luxusproblem, sich zwischen zeitlich parallel laufenden Konzerten zu entscheiden oder die Aufmerksamkeitsspanne drängt nach einer Pause. Ins Gasoline am Nachmittag, wo Leonor Arnaut & Ricardo Martins, XIII und NZE NZE ihr Repertoire zwischen Post-Punk und Improvisation offerieren, schaffe ich es nicht, aber die Veteranen abends im Klub Os Penicheiros – Sven – Ake Johansson & Jan Jelinek und dem Free Jazz Afro – Rock des Nok Cultural Ensembles aus dem Sons Of Kemet – Umfeld sind mehr als ein Ersatz, da sie die experimentelle Musik in selten oder noch gar nicht gehörte Richtungen weiterführten, Jazz – Drums gepaart mit elektronischen Drones bzw. Free Jazz Ethno-Dub.
Die finnisch-luxemburgerische Künstlerin mit italienscher Abstammung Maria Rossi veröffentlichte unter ihrem Künstlerprojekt Cucina Povera schon einige Alben auf unterschiedlichen Labels und bewegt sich mit ihren Einflüssen aus experimentellem Folk, verfremdetem Gesang und komprimierter Elektronik nah am Label-Raster von Fonal oder Kraak. In der Igreja de Santa Cruz verströmt sie mit ihren rituell wirkenden Acapella- Folksongs, über die nach und nach Schichten aus dem Echo ihrer Stimme und elekronisch – gerierte Drones legt pure Magie.
Die slovenische neo-folk Band Sirom und die Fusion-Band Horse Lords lassen am Abend den diesjährigen Hauptveranstaltungsort ADAO zur Tanzfläche metamorphosieren.
Am Samstag laufen dann wieder drei Konzertblocks zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten in Barreiro.
Die Biblioteca Municipal ist aber sicherlich eine sehr gute Wahl. Noa Kurzweil aka Voice Actor gibt eine Art Best- Of ihres unglaublichen Albums Sent From My Telephone. Hinter einem transparenten Vorhang, auf dem vage Bilder und Clips projeziert werden, steht sie am Tisch mit ihrem Computer und spricht und “singsangt” in einer beinahe unbeteiligt wirkenden Alltagsstimme. Aber, ihre Songs stellen eine geniale Spiegelung der hyperdigitalen Welt von heute mit ihren oft sinnlosen Voice Mails, Playlists und endlosen ins Leere laufenden Kommunikationsformen in verschieden Sprachen dar. Unglaublich ist ihr Album auch schon alleine aufgrund der Länge: viereinhalb Stunden und 109 Songs, die wie ein fiktives tönendes Tagebuch klingen, das man in ein Mixtape transferiert hat.
Die Musik zitiert scheinbar ähnlich eklektisch dezent im Hintergrund angelegte ambiente Klanglandschaften, Hip Hop, dubbige, narkotische Beats, Popelemente, die idiosynkratische Szene um Space Afrika, Mica Levi, Tirzah und vieles mehr.
Ravenna Escaleira spielt anschießend einen Solo – Saxophon-Set. Street Art, Poetry, bildende Künste, Aufenthalte in Brasilien, Spanien und Italien sowie das Musikmachen in den Straßen diverser Metropolen schliffen ihr künstlerisches Profil; die intensiven dreißig Minuten ihres Auftritts beinhalten alle Gefühlszustände, die man mit einem Instrument ausdrücken kann.
Joana de Sá hat zwei sehr gute Alben auf dem portuenser Sirr-Label veröffentlicht und zeigt in der Bibliothek live wie sie ihre Stücke mit Gitarre und Synthieloops, die meist sehr leise an der Hörschwelle beginnen und sich nach und nach aufbauen, verdichten und dramatisch entwickeln. Ihre Songs beziehen sich auf Orte oder Musik, die sie berührt und einen emotionalen Eindruck hinterlassen haben und die sie in ihre eigene Musikästhetik übersetzt.
Wieder im ADAO beginnt der Abend mit einem Konzert von Rita Silva, die seit einiger Zeit am Institute of Sonology in Den Haag studiert. Ursprünglich inspiriert von Pionierinnen wie Delia Derbyshire und Laurie Spiegel entwickelt sie – nachzuhören auf zwei empfehlenswerten Tapes – ihre eigene Handschrift. Mit modularen Synthesizern spielt sie eine sich stetig verändernde organische psychoakustische Musik, die auf geniale Weise Kopf und Körper miteinander vereint.
Holy Tongue – Valentina Magaletti, Susumu Mukai, Al Wootton – amagalmisieren dann auf der großen Bühne (mit offenem Scheunentor im Rücken des Publikums) fünfzig Jahre britsche Undergroundmusik. Über das prägnante Rhythmusgerüst von Magaletti und Mukai, das man ansonsten so hypnotisch und aufeinander eingespielt vielleicht nur so in der Blütezeit von Can hören konnte, setzt Al Wootton die melodischen wie disharmonischen Spitzen: On-U-Sound, rituelle, oszillierende Beats aka 23 Skidoo, Rough Trade-Ästetik und vieles mehr meint man hier herauszuzhören und erneut fusionieren Intellekt und Körper bei der Musik von Holy Tongue zu einer Einheit.
Wie es noch eines Beweises bedurft hätte, was den eklektischen Geschmack des Veranstalterteams anbelangt, übernehmen danach die alternativen Black Metaller von Liturgy um die Gitarristin und Sängerin Haela Hunt-Hendrix die Bühnenhoheit. Ein wenig wie die Doom-Götter Sunn >>> experimentierte die Band in den letzten Jahren mit verschiedenen Einflüssen, die von der “reinen Lehre” des Black Metal-Kanons abweichten. Elektronische Elemente, chorale- und orchestrale Passagen zwischen die Noise-Gewitter eingeflochten und auch die NYC-Lower East Side – Historie von Bands und Musikern wie Sonic Youth, Glenn Branca oder Rhys Chatham zitierend, macht die die Band auch für ein avantgardistisch ausgerichtetes Publikum interessant.