Météo Music Festival Mulhouse 2021

Von einer Rückkehr zu vorpandemischen Gepflogenheiten kann zwar keine Rede sein, trotzdem wagen einige Veranstalter seit dem Sommer den Online-Modus wieder aufzugeben und Musik auch wieder live mit Zuschauern zu präsentieren.
Météo in Mulhouse war im vergangenen Jahr schon eines der wenigen Festivals, das unter entsprechenden Auflagen stattfinden konnte. So konnte die Crew für die traditionell Ende August programmierten Aventures Sonores schon mit einer gewissen Routine aufwarten. Den Pass Sanitaire vorgzeigt und schon konnte man sich am Ticketstand das ersehnte Armband für den Zugang besorgen und bekam noch zusätzlich eine CD aus dem grossen Fundus des Mulhouser Musikbüros geschenkt.
Das Programm war, wohl auch aufgrund der Unsicherheit was die ständig wechselnden Reisebeschränkungen anbelangt, überwiegend auf französische und schweizerische Musiker ausgerichtet und auch der Zuschauerzuspruch blieb überschaubar und setzte sich fast ausschliesslich aus Leuten aus der Region zusammen. Das Motoco, wo sonst eher DJ-Events stattfinden, im fantastischen Areal der ehemaligen Textilfabrikation beheimatet, diente wie schon vergangenes Jahr als Hauptveranstaltungsort anstatt das traditionelle und großzügerige alternative Zentrum Noumatrouff.


Zur Eröffnung duellierte sich das Toulouser Duo Sarah Brault (Stimme ) und Marion Jo (Violine) unter dem schönen Künstlernamen Tarzan & Tarzan mit dem Le Choeur Sauvage aus Strasbourg, was glücklicherweise zu verhältnismäßig wenigen Ausbrüchen ins vokalakrobatische Minenfeld führte, sondern überwiegende spannende Momente hervorbrachte. Momente, deren Quellen man in osteuropäischer Folklore, Neuer Musik, Drone, Stockhausen auszumachen vermutete. Auch wenn das theatralische Faible des Chors immer mal wieder an eine aus dem Ruder gelaufene Familienaufstellung gemahnte: ein gelungener Festivalauftakt und ganz nebenbei eine Art Erweckungserlebnis für die Zuhörer – Musik, live und unter Gleichgesinnten zu erleben; das gab es lange nicht mehr. Tarzan & Tarzan konnte man zwei Tage später im Auditorium des Musikkonservatoriums auch noch in Reinform erleben, wo sie ihre, dem Konzept geschuldete, Zurückhaltung aufgaben und einen intensiven, noisig-dronigen Auftritt hinlegten.
Mathieu Werchowsky, versierter Violinist, stellte daraufhin sein neues Album vor, das die gesamte Gestaltungsvielfalt, die dieses Instrument und Genre mit sich bringt, beleuchtet. Beeindruckend wie Werchowsky eine dreiviertel Stunde, beinahe unbeschwert wirkend, Virtuosität und Musiklität vor Publikum zur Schau stellt.

Danach kommt es für mich zum ersten Höhepunkt der diesjährigen Météo-Ausgabe: Éloïse Decazes, Pariserin mit einer Affinität für obskure, traditonelle Songs, die sie gerne sanft ins Surreale transferiert und die sie mit Arlt, Eric Cheneaux oder der gleichsam unwiderstehlichen Délphine Dora in Szene setzt, trifft diesesmal mit Julien Desailly als musikalischen Gefährten auf die Formation Begayer (Loup Uberto, Lucas Ravinale, Alexis Vineis).

Ein Sammelsurium an “gefundenen” selbstgebauten oder umfunktionieren Instrumenten und ausrangierten Radios liegt da auf dem Teppich, der die fehlende Bühne ersetzt, und während von den Musikern ein leises, anarchisch-verspieltes Klanggemälde inszeniert wird, bezirzen sich der sich fordernd-forsch gebende Loup Uberto mit seiner Interpretation von norditalienischen Folkadaptionen und die kühl-ironische und sich sophisticate gebene Éloïse Decazes. Auch Éloïse Decazes und Julien Desailly und Loup Uberto und Lucas Ravinale kann man an anderer Stelle wärhrend der Festivaltage nochmals erleben. Von Begayer, Loup Uberto (auf Three Four Records) und Éloïse Decazes sind im vergangenen Jahr ausgezeichnete Platten erschienen, vielleicht inspiriert der Auftritt zu einer gemeinsamen Produktion.

Stéphan Clor, in Colmar aufgewachsen, hat in Wien Musik studiert und fühlt sich nicht nur in der klassischen Avantgarde zuhause. Einflüsse von Minimal Music, Folk, Ambient-Noise oder Elektroakustik lassen sich zahlreiche in seinen verschiedenen Projekten finden. Bei Hyperborée spielt er Cello; Léa Roger, die wir mit Osilasi zwei Abende später erleben, Harfe und Clara Lévy Violine. Ihre Kammermusik bekommt durch den experimentellen Mix und elektronische Elemente eine hypnotische, andersweltliche Atmosphäre. Für den Auftritt des (Bläser-) Ensembles Liken begibt man sich vom Motoco über das Fabrikgelände in ein zur Kletterhalle umgestalteten Gebäude.

Der bizarr-scheinende Hintergrund der hoch aufragenden Kletterwand motiviert die Formation und den unruhigen Dirigenten, dem man einen Hang zum Overacting nachsagen könnte, zu entsprechenden Höhenflügen des Genres der  freien Improvisation.
Grégory Dargent dagegen, der den Abend beschließt, spielt Gitarre und Oud und zusammen mit Anil Eraslan (Cello) und Wassim Halal (Perkussion) finden wir uns unmittelbar in der Sahara wieder, in der die französische Regierung auf algerischem Gebiet in den 1960ern Nukleartests durchführte. Dies erklärt den melancholischen Unterton der neben der Trancemusik der Tuareg auch stark vom Jazz, schrillem nordaffrikanischem Pop und Chansons inspirierten Musik. Als eine Art alternativer Travelogue angelegt vermischt sich die Musik Dargents, die unweigerlich auch Schimmer anderer in der Region hängengebliebener oder sich inspirieren lassenden Künstler wie die Sun City Girls, aufblitzen lässt, mit den visuellen Eindrücken des auch fotografisch Tätigen.
Im Park Salvador verpasste ich den Partymusik-Abend mit Lumpeks, der polnischen Formation, die mit dem Spirit des Free Jazzs traditionelle Folksongs aufmischte und die Bläserformation Kill Your Idols, die unter der Regie von Fred Frith das Sonic Youth-Stück und andere Gassenhauer im Stile einer Brass Band oder der Weill/Eisler – Phase von Heiner Goebbels und Alfred Harth zum Besten gab.
Fred Frith konnte man zum Auftakt des Freitagabends dann im Duo mit der portugiesischen Trompeterin Susana Santos Silva auch auf der Bühne erleben.


Überraschend bediente das Duo nicht die übliche Vorstellung von improvisierter Musik, sondern ließ ein feines Gespür fürs Melodische, Songorientierte zu Tage treten. Jazz, Americana, Noise und ambiente Momente ließen Erinnerungen an die Zeit aufkommen, als Frith mit seinen japanischen Co-Partnern Death Ambient Magisches heraufbeschwor.
Sarah Terral aka Clément Vercellettos Auftritt traf mit dem Veröffentlichungsdatum seines Albums auf dem geschmacksicheren Lausanner Label Three:Four Records zusammen, somit konnte man die exklusive Premiere erleben. Vercellettos Musik, mit modulären Synthesizern komponiert und eingespielt, sticht aus dem Festivalprogramm heraus: Grenzüberschreitender Noise und die Schönheit der Stille gleichermaßen in einer höheren Ordnung in Einklang bringend, spürt man in seiner Musik eine Dringlichkeit, der noch ein Punk-Spirit innewohnt und wie man sie ansonsten auch schon bei seinen anderen Projekten mit Orgue Agnès, der Formation mit ELG oder dem post-Techno Projekt Kaumwald kennenlernen konnte.


Mit dem Duo Osilasi begegnet man auch Léa Roger wieder, die hier, wie auch schon beim Kraak Festival 2019 ihre frei-anarchische Seite zeigen kann und mit Célia Jankowski am Schlagzeug zusammen zelebriert sie diese leicht verschobenen/verschrobenen Free-Folk – Songs, tribaliastisch angelegt und vielleicht imaginären Kulturen nachjagend, die sympathischerweise immer Gefahr laufen, die Balance zwischen Schönklang und Disharmonie zu verlieren.

Das zwischen Kunst, Performance und Klang sich orientierende (und manchmal verlierende) Genfer Zweigespann Julia Semoroz (Electronics, Vocals) und Emma Souharce (Electronics) beschließt den Abend im Motoco mit, im Korsett von post-industriellen dekonstruierten Techno-Landschaften versteckten kleinen Melodietupfern.
Am Abschlusstag ist dann defintiv die Zuschaustellung maskuliner und femininer Muskelkraft angesagt. Anthony Laguerre, vom Rock kommnender Schlagzeuger, mischt elektronisch verstärkt das Les Percussion De Strasbourg-Ensemble ab und Myotis V stellt sich als das angekündigte Trommel-Spektakel heraus.
Bei der Performance Boxing Noise haben sich Julia Semoroz und Emma Souharce mit Cyril Bondi am Schlagzeug und vom weiblichen Boxclub Mulhouse zuammengetan, um Musik und extremen phyischen Sport unter Einbezug des Publikums zu vermischen. Das erinnerte etwas an bemüht orgininelle Theaterkurse in der Schule.