Ripples
December 31st, 2024
Clothilde – Cross Sections
Molero – Destellos del Éxtasis
Polido – Hearing Smoke
Midget – Qui Parle Ombre
Sofia Mestre, die Künstlerin hinter Clothilde, musste erst 40 Jahre alt werden, bevor sie das Komponieren von Musik für sich entdeckte. Nun, sechs Jahre später, erfährt Clothilde durch Holuzam nach verschiedenen schon hervorragenden Tapes und digitalen Veröffentlichungen mit ungewöhnlicher Drone-Musik “für und von” Maschinen, aber auch Produktionen für das Theater die nächsthöhere Anerkennung mittels einer LP- Produktion auf dem wohl innovativsten Label im Land. Zuvor studierte und lebte sie einige Jahre in Spanien und arbeitete als Coloristin für das Kino und für diverse Werbeagenturen. 2009, als in der sich anbahnenden Krise viele junge Menschen Portugal verließen, kehrte sie in ihre Heimatstadt Lissabon zurück und widmete sich in ihrer freien Zeit dem Zeichnen und der Fotographie. Zusammen mit ihrem Partner experimentierte Sofia Mestre auch mit dem Bauen und Entwickeln von Modularen, die schließlich zu einer elektronischen Maschine gedeihten, mit der man Sonores ähnlich wie beim Zeichnen gestalten konnte.
Die ersten Veröffentlichungen gingen Hand in Hand mit einer sanften Aufbruchswelle von gleichgesinnten portugiesischen Musikerinnen – Raw Forest, Jejuno oder Caroline Lethô – die den Spuren der Pionierinnen der elektronischen Musik folgten und durch die Verfügbarkeit von modernerem Equipment eigenständige, neue Musik komponieren konnte, ohne auf den guten Willen von Produzenten angewiesen zu sein.
Wie Sofia Mestre mit einem Augenzwinkern bemerkt, läuft auch die selbstgebaute Maschinerie auf Cross Sections immer mal wieder Gefahr aus dem Ruder zu laufen und die Kontrolle zu übernehmen. Die Songs sind aber ganz im Gegenteil präzise durchstrukturiert und bilden aber auf dem Album ein breites Spektrum von introspektiven bis roh- brutalistischen und emotionalen Stimmungsbildern ab, die man so tatsächlich noch nicht gehört hat.
Alexander Moleros Debut-Album Ficciones Del Trópico war in der auflagenarmen Welt der experimentellen elektronischen Musik, in der 500 gepresste Exemplare schon meist schon zuviel sind, ein überraschender Erfolg und sogleich, wie auch die Zweitauflage, vergriffen. Der nach Barcelona übersiedelte Venezulaner Molero vermochte mit einem Yamaha CS-60 Synthesizer, Flöten und Naturaufnahmen von Vögeln und anderen Bewohnern des Tropenwaldes und einem ironischen Blick von außen auf seine Heimat ein üppiges Soundgemälde zu kreieren.
Die Vorstellung wie Naturforscher, Abenteuerer und Künstler aus Europa und den USA die Wildnis über Jahrhunderte romantisierten bewegte Molero und mit “time on his hands” erschaffte er ein alternatives Traveller-Manual. Ein wenig an die Tzadik-Formationen Death Ambient (Kato Hideki, Ikue Mori, Fred Frith) und Phantom Orchard (Ikue Mori, Zeena Parkins) oder das Kult-Album von David Toop und Max Eastley Buried Dreams und nicht zuletzt Mike Coopers Explorationen angelehnt, lässt es sich bestens in eine stimulierende und simultierte Welt abtauchen.
Die Songs auf dem Nachfolgealbum Destellos del Éxtasis sind nun, obwohl auch hier mit dickem Pinsel aufgetragen wird, introspektiver und verästelter, aber auch beliebiger. Anstatt mit neugierigem Blick sich Schritt für Schritt in den Urwald vorzuwagen, hat der Protagonist diesesmal wohl beim erstbesten Schamanen- Camp haltgemacht und Frösche abgeleckt. Die daraus resultierende Ekstase ist aber eher schal als schillernd ausgefallen und der Grad der Bewusstseinserweiterung ist überschaubar, obwohl die musikalischen Zitate aus hippieeskem Krautrock und Eso-Ambient natürlich ihren Reiz haben. Molero sucht diesen auf Destellos Del Éxtasis in einer neuen Innerlichkeit.
Übrigens bedient sich Fenna Schilling, die für die Covergestaltung verantwortlich zeichnet, auf das Offensichtlichste bei Johannes Scheblers Baldruin Ablum Relikte Aus Der Zukunft und dessen Sci-Fi-Psychedelic-Ästhetik.
João Polido zelebriert auch auf seinem neuen Album Hearing Smoke, wie schon auf der Doppel-Kassette mit der Filmmusik für Madalena Fragosos und Margarida Meneses Film Sabor A Terra und A Casa E Os Cães, die kurze Aufmerksamkeitsspanne. Schon nach zehn Minuten sind die ersten vier Stücke des Albums durch und doch laufen die Songs nicht Gefahr, sich in Überambition zu verlieren.
Sehr eigen und doch ganz in der Tradition der experimentellen Musik in Portugal, die erstaunlicherweise trotz aller Gentifizierung auch der Kultur ein ganz eigenen Weg verfolgt, springen die scharf-geschnittenen Montagen von abstrakten Beats zu Jazzelementen, von Noise zu Zitaten zeitgenössischer portugiesischer Komponisten prä- und postrevolutionär. Vieles passiert simultan und man hört der Musik mit seinen manigfaltigen Stimmungsbildern zwischen Introspektion, urbaner Hektik, düsterer Vorahnung vor allem auch den Filmkomponisten, der er unter anderem ist, an.
Claire Vailler und Mocke Depret veröffentlichen nach sieben Jahren ihr viertes gemeinsames Album als Midget! auf dem Pariser Künstler-Label Objet Disque. Mehr Kammer- als Popmusik – unter anderem vertonen sie ein Gedicht von Apollinaire – sind die Songs wie schon auf dem Vorgänger Ferme Tes Jolis Cieux äußerst ambitioniert.
Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen individuellen Projekten von Vailler und Depret haben sie hier die Leichtigkeit und Zugängichkeit zu Gunsten einer existenzialistischen, traumhaften Schwere außen vor gelassen, noch verstärkt durch Streicher und Harmonium. Die Songs klingen wie in der Zeit eingefroren; nichtsdestotrotz lässt sich in den Arrangements der Stücke weiterhin subtil die Vorgeschichten der Beiden heraushören, was eine faszinierende Mischung aus Sophistication und Zugänglichkeit ergibt, wie sich das Mittelalter mit der Gegenwart vereint. Mit Qui Parle Ombre setzen sich Vailler und Depret gerne zwischen alle Stühle – nicht impressionistisch, nicht romantisch, nicht neutönerisch, nicht chansonesk, nicht avantgardistisch und doch alles auch zusammen.
http://www.holuzam.bandcamp.com