Ripples

November 8th, 2020

Kuupuu – Plz Tell Me
Cassini Division – Eta Carinae
Miaux – Black Space, White Cloud
Vica Pacheco – Symplegmata
Orphan Fairytale – Titania Moon
Orphan Fairytale – Tune In Tree Ears

 

Zweifellos ein Scheißjahr! Am letzten Tag im Februar und am ersten im März ließ sich während der 2020er-Ausgabe des allseits geschätzten Kraak-Festivals in Brüssel das sich ausbreitende Unheil schon erahnen, die weitreichenden Folgen und Konsequenzen waren aber natürlich noch nicht in ihrer ganzen Bandbreite absehbar. Seit dem Frühjahr ächzen insbesondere aber auch Künstler, Labels und Organisatoren unter der Situation. In den Katakomben des musikalischen Off-Stream-Untergrunds wo Geld immer schon Mangelware oder gar nicht erst vorhanden war und ist, reagieren die Musiker und Labels nichtsdestotrotz mit verstärkten Aktivitäten. Pläne müsssen zwar permanent über den Haufen geworfen oder angepasst werden, aber da gerade nichts mehr einen Sinn ergibt, werden weiterhin Platten veröffentlicht und zwischen dem jetzigen und nächsten Lockdown wird an neuen Projekten gefeilt.
Die beiden wichtigen Aushängeschilder und Vernetzungsspezialisten der belgischen Außenseitermusik – Dennis Tyfus’ Ultra Eczema – Label in Antwerpen und die Crew von Kraak in Gent/Brüssel – erweitern allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Sammlung für sonderbare Musik und bescheren dem zugeneigten Hörer – wahlweise im Home Office oder in der systemrelevanten Gefahrenzone – inspirierende Musik, komponiert und aufgenommen von in der Welt verstreuten Lonern. Ob man die Musik dann bei einem Festival auch live und gebündelt bei einem der Festivals der Labels erleben kann…who knows?

 

Eva Van Deuren taucht in ihrer Musik, die sie unter ihrem Künstlernamen Orphan Fairytale mit Tonbandschleifen, Kassetten, Synthesizern, Spielzeug- und selbst gebauten Instrumenten, und neuerdings einer Harfe komponiert, in eine Innenwelt ab, die einerseits einen wundersamen Zaubergarten suggeriert, anderseits psychedelisch – verzerrt auch den einen oder anderen ungemütlichen Schauer heraufbeschwört. Seit ihrem letzten, bemerkenswerten Doppelalbum mit vier langen, Minimal Music-affinen Stücken auf Aguirre Records sind einige Jahre ins Land gezogen. Nun beglückt Eva Van Deuren die “Community” gleich mit zwei neuen Alben.
Die sinister dreinschauenden Puppen, die das Cover von Titania Moon (Ultra Eczema) schmücken und die eines ihrer Markenzeichen sind, werden den Hörer garantiert in dem einen oder anderen Albtraum heimsuchen und verschüttet gegangene Kinderheitserinnungen heraufbeschwören. Zwischen tiefenentspannter Schönheit, veredelt mit einem Hauch “Musik zum Ende der Zeit” und blubbernder Unweltlichkeit, direkt aus der Opiumhöhle, findet man sich nach einer guten halben Stunde intensiven Hörens auch in einem Perfumed Garden wieder.

Auf Tune in Tree Ears (Kraak) führt Eva Van Deuren ihre Musik sachte in eine neue Richtung. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Stücke für Harfe geschrieben wurden und das filigrane, akustische Element hier als Gegenstück zu den labyrinthisch angelegten, elektronischen Kompositionen fungiert bzw. größeres Gewicht hat. Weniger auf das große Drama und unterschiedliche Gefühlsaggregatzustände angelegt als Titania Moon, können auch diese feingesponnenen, melodischen musikalischen Skulpturen die Sinne schärfen. Willkommen in den wunderbaren Zwischenwelten der Eva van Deuren (siehe oben).

Besinnlichkeit ist nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal von Jonna Karanka aka Kuupuu bzw. deren Musik. Die in finnischen Postpunkbands wie Avarus und den brillianten Olimpia Splendid aktiv gewesene Künstlerin, setzt auch bei ihrem Solo-Projekt Kuupuu auf kurze Aufmerksamkeitsspannen und krasse Stilbrüche. Plz Tell Me, schon als Tape im Umlauf, wurde für die LP-Version erweitert und teilweise neu abgemischt. Wie ihre finnischen Seelenverwandten Nalle, Lau Lau oder Islaja scheint auch Jonna Karanka ein nomadenhaftes Gen zu besitzen, das sie ruhelos durch die internationalen Untergrundszenen ziehen lässt.

Die belgisch-finnische Verbindung ist in dieser Hinsicht eine besondere und fast schon traditionelle, insbesondere mit der Fonal-Clique besteht ein reger Austausch. Plz Tell Me steht für einen schräg zusammengeklebten und verschwurbelten musikalischen Flickenteppich der Marke “quer durch den Genregarten”: Dub trifft also auf Disco, Schlagerfetzen auf Folk, Noise auf Stimmengewirr und so weiter. Eine Kraak-Produktion, die auch auf der Tanzfläche funktioniert? Das ist auch ein Novum.

Mia Prce aka Miaux widmet sich auf ihrer dritten LP für Ultra Eczema Black Space, White Cloud wieder ganz dem Ausloten und Nuancieren verschiedener Grade der Melancholie. Als Tochter zweier Maler kam sie als diese von Sarajewo nach Belgien zogen früh mit der Antwerpener Kunstszene in Kontakt und genoss später eine sogenannte klassische musikalische Ausbildung. Zudem wurde sie von ihren Eltern mit einer Diät an Krautrock und deutscher elektronischer Musik gespeist. Ihre Musik ist also nicht von ungefähr von barocker Schwere. Ihre Songs komponiert und spielt Mia Prce aber anstatt auf einem Flügel oder teurem Keyboard auf einem billigen Casio-Synthesizer, was einerseits von einer guten Portion Humor zeugt und andererseits die Schwere der Musik in bester Punkmanier bricht.

Wie auch schon mit den beiden vorherigen Alben – Hideaway, Dive – läuft man beim Hören dieser so schönen wie traurigen Musik Gefahr, von der eigenartigen und getragenen Atmosphäre der Songs in einen Sog gezogen zu werden und sich tagträumend im Nichtstun verlieren.

Vica Pacheco, Mexikanerin aus Oaxaca, in Brüssel residierend und dort in den experimentellen Szenen sehr aktiv, legt mit Symplegmata nach einigen Radioarbeiten nun ein Album für Kraak vor, das eine erstaunliche stilistische Spannbreite aufweist. Symplegmata sind Unterwasserorganismen, die sich an Steine heften und Kolonien bilden. Der Bergriff bezieht sich aber natürlich auch auf Hermaphroditos und Satyrin in der griechischen Mythologie; kein akademisch angehauchtes Werk ohne den entsprechenden Überbau!


Unterstellt man nun Vica Pacheco vom Papier her eine rein akademisch-wissenschaftliches Interesse für Musik, wird man beim Hören ihrer abwechslungsreichen Platte schnell eines Besseren belehrt. Unorthodox trifft da Musique Concréte auf impressionistische Klangskizzen, traditionelle mexikanische Vokalarrangements und andere Feldaufnahmen weichen einer popaffinen Verspieltheit für Melodien.

Der Argentinier Miguel Sosa lebte für einige Zeit in den 00er Jahren in Antwerpen in einem Künstlersqat, hielt sich als Straßenmusiker über Wasser und war laut dem Ultra Eczema – Chef Dennis Tyfus ein feste Größe in der dortigen experimentellen, heterogenen Musiklandschaft, wo es durchaus vorkommen konnte, dass sich spontan Musiker aus unterschiedlichen Bereichen für einen Auftitt zusammentaten, neben der Bühne gemalt wurde und vieles anderes passierte. Sosa zog dann plötzlich wieder weiter und war ersteinmal von der Bildfläche verschwunden. Überraschenderweise erhielt Tyfus nun Jahre später aus Buenos Aires von ihm das Masterband für sein Solo-Herzensprojekt Cassini Division.

Das feine, kleine Meisterwerk, Eta Carinae betitelt, hat außer den Titeln der Stücke scheinbar wenig mit dem Weltraum, Doppelsternen oder der Wissenschaft zu tun. Die komplexen Kompositionen, die Sosa zuhause mit einem Teac Tape Recorder und diversen konventionellen und anderen Klangerzeugern aufgenommen hat, wirken streng strukturiert und schöpfen aus den manigfaltigen Affinitäten Sosas. Elektronischen Miniaturen, klassische, dramatische, filmmusikalische Elemente, Renaissance- und Library – Music, atonale Klangflächen, Drones und ambiente Electronica fügen sich hier zu einer gut dreißigminütigen, sehr europäisch klingenden Komposition zusammen. Immer schwingt bei den Stücken eine latente, brodelnde Unruhe mit, die Atmosphäre ist aufgeladen und wahlweise schwer, unwirklich oder melancholisch, womit Sosa durchaus auch als Soulmate von Miaux gesehen werden darf.

http://www.kraak.net

http://www.ultraeczema.com

 

 

Ripples

November 6th, 2020

Três Tristes Tigres – Mínima Luz

 

Den Três Tristes Tigres aus Porto gelang es in den 1990ern mit einer eigenwilligen Mischung aus poetischen, geheimnisvollen Texten und eklektischer Musik – die Einflüsse aus Trip-Hop und vertrackter Electronica, aber auch filmmusikartige Soundscapes und Balladen kongenial verband – auf der einen Seite als Kultband in Portugal zu gelten, aber auch den einen oder anderen Insiderhit zu landen ( Zap Canal, Noites Brancas).
Partes Sensíveis, das in der alternativen Musikszene in Portugal für Aufsehen sorgende Debutalbum, entstand noch in der Besetzung Ana Deus, Paula Sousa und Regina Guimarães. Danach aber zog sich Regina Guimarães aus dem Live-Setting der Band zurück und konzentrierte sich auf das Schreiben von Texten für die Grupe. Der ursprünglich bei der Rockband GNR spielende Alexandre Soares ersetzte Paula Sousa. Eine geniale Fügung, brachte Soares doch sein Know How aus seinen Arbeiten mit Film und Theater mit und zeigte sich gleichermaßen begeistert für das auf das Essentielle reduzierte Gitarrenspiel und neue Elektronik.
Die Songs auf Guia Espiritual (1996) und Comum (1998) entkernten den Popsong auf das absolut Wesentliche und schafften Momente, wo der, teils sperrige, teils harmonische, immer wandlungsfähige Gesang von Ana Deus unwiderstehliche Symbiosen mit Soares Klanggebilden eingeht.
Nach einem Art Best of-Album 2001 gingen Ana Deus und Alexandre Soares aber überraschend kreativ getrennte Wege, nur um dann gut ein Jahrzehnt später für das noch reduziertere, rockigere Projekt Osso Vaidoso wieder zusammenzuarbeiten (es entstanden zwei Alben).

Anlässlich einer Konzertserie im alterehrwürdigen Rivoli Theater in ihrer Heimatstadt Porto, wo Ana Deus und Alexandre Soares angefragt wurden, ihr Debut nochmals live zu spielen, (man einigte sich schließlich auf Guia Espiritual, da der Erstling ja noch in anderer Besetzung entstand), und einem für alle Seiten gelungenen Auftritt, reifte die Idee, die Tiger wieder zu beleben.
Die Entstehung von Mínima Luz war also erneut ein Experimentierfeld und die Chance, die Gitarre und modularen Synthesizer von Soares mit den vielen Stimmen von Deus zu kombinieren und eine Popplatte auf der Höhe der Zeit zustande zu bringen. Die Kompilation erschien, so die Band in einem Interview, am 11.9.2001, jetzt veröffentlichen wir Mínima Luz inmitten der größten Gesundheitskrise unseres Lebens, aber es war nie eine Überlegung die Platte zu verschieben wie das viele andere Bands gemacht haben, denn es ergibt keinen Sinn zu versuchen, die Zeit auszusetzen. Die Platte ist ein Zeugnis der Gegenwart 2020.
Obwohl der Entstehungsprozess ihrer Musik nicht grundsätzlich von ihrer bisherigen Linie und Arbeitsweie abweicht, öffnete sich das Duo diesesmal für die intensivere Beteiligung anderer, befreundeter Musiker: Fred Ferreira von Orelha Negra spielt Schlagzeug auf einigen Stücken wie auch Gustavo Costa, den wir als einen der Initianten der experimentellen Szene Portos er letzten fünfzehn Jahre kennen (siehe News from Porto) – die “echten” Drums lassen die Musik organischer und griffiger als früher klingen. Rui Martelo spielt Bass und Angélica Salvis Harfenspiel führt auf Língua Franca, Curativo und Purpurina (Text von Luca Argel) die Musik subtil vom urbanen auf unweltliches Terrain.
Soares lässt die Gitarre und die Elektronik direkt und rau klingen; schleifend und abrasiv reiben sich die Misstöne wunderbar mit der an sich melodischen Ausrichtung der Songs. Ana Deus interpretiert die Texte mit subtiler Wandlunngsfähigkeit, ohne je Gefahr zu laufen Overacting zu betreiben. Letzlich ist den Três Tristes Tigres mit Mínima Luz eine der wenigen zeitgemäßen off-stream- Rockalben der letzten Jahre gelungen. Die Lyrics von Regina Guimarães sind in ihrer Effizenz und Vieldeutigkeit große Kunst und bergen oft eine geheimnisvolle Unentschlüsselbarkeit und Mehrdeutigkeit.

Dazu passen auch ihre beiden ins Portugiesische adaptierten Gedichte von William Blakes The Tyger und Life Is Fine von Langston Hughes, einer jener Songs, so Ana Deus, die das Nachdenken über den Suizid unterhaltsam machen.

À Tona

Fui até à beira rio
na margem me quis sentar
tentei pensar mas não pude
então decidi saltar

À tona vim e gritei
vomitei lodo e chorei
não fosse a água tão fria
é certo que morreria

Entrei no elevador
que ao vigésimo levava
pensei no meu desamor
e julgei que me atirava

Frente ao abismo gritei
frente ao vazio chorei
cair de tão alto é ruim
e é triste de morrer assim
não fora tanta a fundura
saltaria de daquela altura

A vida sabe-me bem
viva me quero manter
morrer de amor é possível
mas eu nasci pr’a viver

 

Life is Fine

I went down to the river,
I set down on the bank.
I tried to think but couldn’t,
So I jumped in and sank.
I came up once and hollered!
I came up twice and cried!
If that water hadn’t a-been so cold
I might’ve sunk and died.
But it was      Cold in that water!      It was cold!
I took the elevator
Sixteen floors above the ground.
I thought about my baby
And thought I would jump down.
I stood there and I hollered!
I stood there and I cried!
If it hadn’t a-been so high
I might’ve jumped and died.
But it was      High up there!      It was high!
So since I’m still here livin’,
I guess I will live on.
I could’ve died for love—
But for livin’ I was born
Though you may hear me holler,
And you may see me cry—
I’ll be dogged, sweet baby,
If you gonna see me die.
Life is fine!      Fine as wine!      Life is fine!

 

http://tresttigres.bandcamp.com