Ripples

December 9th, 2023

Winter Of Discontent:
Bob Stanley/Pete Wiggs – Winter Of Discontent
Gina Birch – I Play My Bass Loud
The Memorials – Music For Film: Tramps! / Women Against The Bomb
Cathi Unsworth – Season Of The Witch

 

Der Begriff “Winter Of Discontent” fasst die Unruhen in Großbritannien in verschiedenen urbanen Brennpunkten und die massiven Streikwellen Ende der 1970er Jahre – genauer von November 1978 – Februar 1979 – und die zunehmend prekären wirtschaftlichen Verhältnisse eines Landes im Niedergang zusammen. Schließlich führte dies zum Fall der Regierung von James Callaghan und dem Wahlsieg von Margaret Thatcher am 3. Mai 1979. Von den Yellow Papers genüsslich ausgeschlachtet, konnte man Horrorgeschichten von im Müll versinkenden Städten bis zu nicht bestatteten Leichen aufgrund der Arbeitsniederlegung in verschiedenen Branchen lesen.
Außerdem sorgten die klimatischen Verhältnisse in diesem besonders kalten Winter für weiteres Unbehagen. Die Labour-Regierung befand sich in einem Dilemma:
Den von den Gewerkschaften geforderten Lohnerhöhungen konnte nur teilweise nachgegeben werden, da gleichzeitig in Inflation in astronomische Höhen kletterte. Das Land hatte jedenfalls jede Menge Probleme außer nicht abgeholten Müllsäcken.
Aus (Sub-) kultureller Sicht waren die Mitt- bis Endsiebziger dagegen eine wahre Blütezeit der Nonkonformität.
Die Initialzündung von Punk fand schon 1976 durch Malcom McLarens geschickte Inszenierung der Sex Pistols – ausgestattet mit schrägen Klamotten aus der mit Vivian Westwood betriebenen Boutique SEX in Chelseas Kings Road, exzentrischen Haarschnitten, scheinbar rüdem Auftreten und mit einem kulturtheoretischen Überbau aus situanistischen und (salon-) marxistischen Ideen gepimpt. Nachdem sich das gemeine Volk von den Beleidigungen bzw. Infragestellen des Königshauses und der verbalen Eskalation in einer reaktionären Talkshow (Where Is Bill Grundy now? sangen die TV Personalties dann später auf ihrer Debut-Single) irgendwie erholt hatte und sich an die bunten Gestalten im Straßenbild der Großstädte gewöhnt hatte, hatte der Punk-Urschrei für die junge, kulturinteressiere Generation in jedem Fall den Effekt, dass nun jeder, der etwas zu sagen hatte, dies sich auch traute zu tun, im zweifelsfall auf einer Bühne.
Und die musikalischen Ideen aus dem Wohnzimmer konnte man durch die plötzlich entstehende und florierende Infrastruktur auf Schallplatte pressen, das Cover gestalten und das Produkt selbst oder in den spezialisiereten Läden vertickern.
Nachdem Punk endgültig verpufft war, fing der Spaß erst richtig an, wie die Masterminds von Saint Etienne Bob Stanley und Pete Wiggs in den Linernotes der dem Thema gewidmeten Kompilation, einem weiteren Höhepunkt ihrer sich diversen obskuren Musikrichtungen der britischen Kultur widmenden Albumserie schreiben.
Margaret Thatchers viel zitierte Aussage -There’s No Such Thing As Society -, darauf gemünzt den Gemeinschaftssinn und die Solidarität der Gesellschaft lächerlich zu machen und die rücksichtslose Individualität und Privatisierung als das neue Credo zu verkünden, führte ironischerweise in der Subkultur zu merkwürdigen Blüten. Das für ein bis zwei Jahre zugestandende Fördergeld für neu gegründete Self Made-Unternehmen wurde von Labels wie Alan Jenkins Cordelia Records oder Yukio Yungs Hamster Records kurzerhand dafür eingesetzt, die obskursten der obskuren Untergrundmusiker auf Schallplatte zu pressen.
Bob Stanley / Pete Wiggs present Winter Of Discontent versammelt hier aber einige der absoluten musikalischen Perlen der DIY-Kultur, die als Kontrast zu den grauen Endsiebzigern farbenfroh schillern. Einge der Singles wie King And Country von Dan Treacy’s TV Personalities, Fairytale In The Supermarket von The Raincoats, Work von The Blue Orchids, Scitte Politti oder The Mekons gehören inzwischen zum Kanon des Post-Punks. Andere, nicht minder wichtige aber unbekannt gebliebene Bands gibt es (wieder) zu entdecken. Die meisten Projekte waren rein privater Natur und die in Eigenregie produzierten Singles hätten ohne das offene Ohr für besondere Klänge von John Peel und der Schirmherrschaft des Rough Trade Ladens in der Londoner Talbot Road nie außerhalb des eigenen Freundeskreis Gehör gefunden.
Bandnamen wie The Red Pullover, Human Cabbages, Thin Yoghurts, Fatal Microbes oder The Gynaecologists zeugen von einem latent bis manifesten DADA-Gen, während die Musik dagegen sehr britisch, Art-School-geprägt und das enge Korsett von Punk in alle möglichen Richtungen ausweitend, Perspektiven für eine in die Zukunft gerichtete Musik versprach.
Ab 1981 schien sich aber die neue Freiheit wieder zu verlieren, Bands lösten sich wieder auf, drifteten in den Mainstream und neue subkulturelle Bewegunbgen (New Romantics, Dance Music) ab.

 

Gina Birch hat sich als eine der wenigen Urgesteine der frühen Rough Trade-Schule deren Aufbruchsgeist bewahrt und nebenbei den “Winter Of Discontent” selbst aktiv erlebt. Von der ersten Single mit den Raincoats bis zu I Play My Bass Loud sind über vier Jahrzehnte ins Land gegangen und doch ist dies ihr erstes Solo-Album. Musik ist für Birch eben nur eine von vielen Möglichkeiten sich auszudrücken; Malen und Filmen sind ebenbürtige Leidenschaften.
I Play My Bass Loud klingt einerseits so wie die Zeit stehen geblieben wäre und durch die sparsame, spröde Instrumentierung doch auch zeitgemäß und aktuell.
Verschrobene Rocker und noch windschiefere Balladen, Dub und Reggae, Krawall und Introspektion reichen sich die Hand und Gina lässt dem geneigten Hörer die Illusion, dass die Vision einer aktiven Counter-Culture-Szene (und nicht Cancel Culture) immer noch existiert.
Prima Platte!
In Brighton haben sich Ex-Electrelane Mastermind Verity Susman und der Wire-Gitarrist Matthew Simms gefunden, um nun als The Memorials in Zusammenarbeit mit progressiven Filmdirektoren all ihre musikalischen Vorlieben und Exzentritäten in die Form von Soundtracks fließen zu lassen.

 

Die schöne Doppel-LP Music For Film beinhaltet einerseits die Musik für die Dokumentation Tramps! von Kevin Hegge, der ehemalige Protagonisten der New Romantic Szene der 1980er interviewt (und Film- und Fotomaterial von damals gegenschneidet. Die Outfits in dieser Vor-Aids-Zeit können aus heutiger Sicht eher als Proto-Drag und Art-Statement als reine Popmusikbewegung durchgehen.
Susman und Sims komponierten für den Film weniger die vermutbaren Synthiepopsongs, sondern abstraktere, düstere Klanglandschaften à la Cabaret Voltaire oder Dome.
Women Against The Bomb von Sonia Gonazales ist der andere Dokumentarfilm, für die The Memorials die Musik geschrieben haben. Der Film erzählt die Geschichte des Peace Camps von Greenham Common, das 1981 von Frauen als Protest gegen die Stationierung von Nuklearwaffen ins Leben gerufen wurde. Musik hatte als Begleitung für die Proteste einen wichtigen Stellenwert. Tatsächlich dort gesungene und imaginäre Songs, kombiniert mit Zitaren der alternativen Musik von damals – New Wave, Noise, Krautrock und Gitarrenpop – lassen die Musik authentisch und gleichzeitig in der jetzigen Zeit verankert klingen. Susman und Sims beweisen sich als wahre Meister ihres Fachs, was sie auch live wie bei einem Konzert vergangenen Oktober in der Lisabonner Music Box zeigen (sieh Foto), als das Duo ihre Songs zwischen Indie-Pop und Avantgarde mit einer Vielzahl Instrumenten (und einigen vorgefertigten Computerspuren) auf die Bühne brachten und eine Spur Magie verbreiteten.

 

Die ehemalige Sounds-Schreiberin Cathi Unsworth hat sich in den letzten Jahren einen hervorragenden Ruf als Autorin für düstere Noir-Kriminalromnane erschrieben; ihre ursprüngliche Leidenschaft – die Musik – aber keinesfalls vergessen (z.B. die ausgezeichnete Biographie über die Punk – und Modepionierin Jordan, die im Umfeld von McLarens und Westwoods Sex/Seditionaries – Shop, den Sex Pistols und später bei den ersten Filmen von Derek Jarman einen großen Einfluss hatte)
Season Of The Witch beleuchtet aus eigener Erfahrung den, nicht nur musikalischen Hintergrund von Goth. Auch hier kann man den Ursprung und die Initialzündung auf den Winter of Discontent und Thatchers radikale Umformung Großbritanniens in den 1980ern zurückführen. Siouxsie & The Banshees, Joy Division, The Cure und Magazine waren die ersten, die einen Weg fanden die Dissonanz und die in der Luft liegende Düsternis des Jahrzehntewechsels in ihrer Musik auszudrücken. Viele andere folgten:
Aus erster Hand und eigenen Erfahrungen durch Interviews usw. schöpfend, lernt man den Werdegang auch von erst später dem Genre zugerechneten Bands und Musikern wie Bauhaus, Killing Joke, The Cramps, Lydia Lunch, Foetus, These Immortal Souls, Birthday Party, Diamanda Galas, Einstürzende Neubauten, Cocteau Twins und vielen anderen kennen; im Hintergrund spielen dabei immer die sozialen und weltpoltischen Spannungen einer Welt, die scheinbar vor dem Abgrund und der nuklearen Apocalypse stand.