three:four records
August 27th, 2018
three:four records – Ein Porträt des Lausanner Labels
Als zartes Pflänzchen, inmitten des Dschungels angesiedelt, der sich musikalische Subkultur nennt und doch zum größten Teil einhergeht mit Beliebigkeit, darf sich das feine Lausanner Label three:four records, das kommendes Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert, auf die Fahnen schreiben, neben dem schon einige Jahre länger aktiven Leuten von Kraak aus Ghent, am Puls der europäischen Off-Stream-Mikrokultur zu sein. Abseits der renommierten Festival- und Labelszene produziert man herausragende Musik in Kleinstauflagen.
Ob einheimische Künstler, wie die sich beim Gestalten von Soundtracks wohlfühlenden maninkari oder die sich auf alternative World Music spezialisiert habenden La Tène; die portugiesischen Künstler, die in Lissabon mit dem Veranstaltungsort ZDB in Verbindung stehen wie João Lobo, Filipe Felizardo, David Maranha oder der musikalische Tausendsassa Norberto Lobo, die belgischen Erneuerer des (mittelalterlichen?) Drones Razen, die schrägen und innovativen Chanteusen Eloïse Decazes, Annelies Monseré und Delphin Dora oder das Urgestein Thierry Müller, der u.a. eine wunderbare Platte mit der Römerin Mushy aufgenommen hat, um sein mythisches Projekt Ruth neues Leben einzuhauchen; der Katalog von three:four records ist beeindruckend. Gaëtan Seguin, eine Hälfte der Gründungsväter des Labels, nahm sich freundlicherweise die Zeit, auf meine Fragen zu antworten.
Wie kam es zur Gründung des Labels?
“Three:Four wurde 2008 zwischen Lausanne und Paris von Arnaud Guillet und mir gegründet. Zu Beginn legte das Label seinen Schwerpunkt auf serielle Projekte – Split 10″ und Kompilationen. Damals planten wir noch nicht, Alben zu veröffentlichen, sondern nur limitierte und handnummerierte Editionen von Künstlern, die wir schätzten, mit einem besonderen Augenmerk auf das physische Objekt. Im Jahr 2008 gab es viele Bands und Musiker, die noch ihre Musik in irgendeiner Form veröffentlicht hatten und wir dachten, wir können ihnen diese Möglichkeit eröffnen. Einige veröffentlichten ihre erste Platte auf three:four records : Amen Dunes, the fun years, white/lichens, Matt Jencik, Silencio etc.2010 orientierte sich das Label neu auf das Veröffentlichen von Alben und nur der Lausanner Zweig blieb bis 2017 aktiv, bis Maxime Guitton, Musikveranstalter und Gründer der ali_fib Konzertserie in Paris miteinstieg. Da wir beide einen Fulltime-Job und Familie haben, betreiben wir three:four in unserer Freizeit.”
Seid ihr selbst Musiker? “Ich spielte Schlagzeug in meinen Zwanzigern, Maxime hingegen war gar ein klassisch-geschulter Pianist in seiner Teenagerzeit, aber wir beide haben das Spielen komplett eingestellt und fühlen uns wohler, Musiker zu unterstützen.”
Lausanne hat einen Ruf, ziemlich fortschrittlich im Unterstützen von interdisziplinärer Kunst zu sein. Eine Gruppe wie Velma hat z. B. auch mit Tanztheatern zusammengearbeitet und das Publikum scheint offener als anderswo in der Schweiz zu sein. Was sind deine Erfahrungen? ” Für eine relativ kleine Stadt ist das kulturelle Angebot sehr gut und es gibt einige Möglichkeiten mit anderen Diziplinen zu kollaborieren. Allgemein gesagt, genießen es die Leute Festivals zu besuchen, sogar die sehr spezialisierten wie LUFF, aber es is auch wahr, dass viele Konzerte nur sehr wenig Publikum anzieht. Alles in Allem würde ich sagen, dass das Lausanner Publikum offen ist ohne allerdings die abseitigen, kleinen Konzerte zu unterstützen.”
Nach welchen Kriterien wählt ihr aus, ob ihr eine Platte mit einem Künstler machen wollt?
” Natürlich ist die musikalische Qualität ein entscheidendes Kriterium, aber das ist nicht ausreichend. Wenn wir genau auf das graphische Design achten, sind wir auch sehr mit der Person hinter dem Küntler verbunden. Grundsätzlich basiert unsere Arbeitsweise auf Vertrauen. Wir bevorzugen es die Hände zu schütteln anstatt einen Vertrag zu unterschreiben, um es so auszudrücken.”
Wie stößt ihr auf die Musik, die ihr produzieren wollt?
” Meistens stoßen wir auf neue Musik ganz einfach durch unsere Netzwerke: Freunde, Freunde von Freunden. Es hat sich unter den Musikern herumgesprochen, dass three:four einen einen gurten Ruf hat und das macht sich für uns positiv bemerkbar.”
Arbeitet ihr bei den Produktionen Hand in Hand mit den Musikern oder ist es eher der Fall, dass ihr das fertige Resultat zum Veröffentlichen bekommt?
” Es ist selten, dass wir schon bei den Aufnahmen und beim Mixen einbezogen werden, da das meistens schon gemacht wurde. Abgesehen von diesem Aspekt, kommt es wirklich auf den Künstler an. Manchmal sind sie komplett autonom und haben eine klare Idee, was sie wollen: sie kommen dann zu uns mit einem speziellen Artwork und die Trackliste ist auch schon komplett; andere haben nur eine Idee im Kopf und der Graphikdesigner arbeitet dann mit dieser Idee. Es kommt auch vor, dass Musiker sich mehr auf uns stützen und uns nach unserer Meinung bei den Mixes, der Titelfolge, dem Sequencing, dem Design oder dem Layout fragen. Für uns sind all diese Möglichkeiten ok, solange die Künstler das letzte Wort über das Artwork und das Mastering haben und glücklich mit dem ganzen Ablauf sind.”
Trotz der Globalisierung, auch im Bereich der Undergroundmusic, scheinen bestimmte Städte immer noch für eine spezielle Art von Musik zu stehen wie z.B. Lissabon oder Brüssel. Was ist deine Meinung?
” Ich würde nicht sagen, dass diese Städte einen speziellen einheitlichen Klang haben, aber es gibt etwas Spezielles. In Lissabon zum Beispielt gibt es viele Möglichkeiten für einheimische Musiker zusammen oder mit anderen Künstlern aus der ganzen Welt zusammen zu spielen, die ein paar Tage, Wochen oder Monate in der Stadt verbringen. Es ist offensichtlich, dass von dieser intenstiven, aktiven Szene alle profitieren. Lausanne könnte auch solch eine Dynamik haben, da es eine gute Auswahl an Konzertsälen hat, vom intimsten Rahmen zu großen, aber bis auf wenige Ausnahmen, gibt es kein Zusammenwirken.”
Abgesehen von dem belgischen Kraak-Netzwerk scheint mir Three:Four Records momentan das offenste Label für zeitgenössische Musik zu sein. Wie könnt ihr mit dieser sehr exklusiven Ausrichtung überleben? Ist es möglich, Zuschüsse, z.B. vom Staat oder Kunststiftungen zu erhalten?
” Danke für Deine netten Worte. Es ist eine Ehre, mit Kraak verglichen zu werden, da das Label einer unserer größten Einflüsse war. Inzwischen ist es nicht besonders schwer Musik aus verschiedenen Ländern zu veröffentlichen: es braucht einfach ein Netzwerk. Aber nicht einer speziellen Szene, insbesondere einer lokalen, angeschlossen zu sein, kann bezüglich der Aufmerksamkeit problematisch sein, ganz davon abgesehen wie wichtig es für uns ist unsere Neugier über die Grenzen auszuweiten und unsere eigene Gemeinschaft, unsere eigene transnationale Szene zu unterhalten. Die Wahrheit ist, wir verkaufen wenige Platten in der Schweiz und in Lausanne im Speziellen. Bis jetzt haben wir uns nie um eine fiananzielle Unterstützung bemüh. Wie schon erwähnt, betreiben wir das Label nebenher und ich habe mich immer unwohl dabei gefühlt, um Geld für unsere Freizeitbeschäftigung zu fragen. Was zählt, ist, dass unsere Verkäufe unsere nächsten Alben finanzieren können. Da unsere derzeitige finanzielle Situation die ist, die sie ist, wissen wir nicht wirklich, was das Jahr 2019 bringen wird.”
Wie könnte ihr euren Katalog vertreiben? ” Wir arbeiten mit a-musik in Deutschland und The Business in den USA zusammen. Beides sind Schallplattenläden, Postversände und Vertriebe, die von wunderbaren, leidenschaftlichen Leuten betrieben werden. Wir arbeiten auch mit Metamkine in Frankreich, die einige speziellen Titel unseres Back-Catalgoues anbieten und Mbari in Portugal für die Norberto Lobo – Alben zusammen. Kürzlich kam Soundhom in Italien dazu.”
Zurzeit gibt es ein großes Interesse an Musik, die vor dreißig oder vierzig Jahre veröffentlicht wurde und viele Labels spezialisieren sich auf Re-Releases. Was denkst du von dieser Sehnsucht an Vergangenem? Three:Four Records dagegen bewegt sehr in der Gegenwart. Könntet ihr euch vorstellen, irgendwelche vergriffene Underground-Klassiker wiederzuveröffentlichen?
” Das ist eine interessante Frage. Einige Jahre zuvor, als Maxime zum Label dazukam, haben wir uns tatsächlich für einen kurzen Moment vorgestellt, eine Abteilung unseres Kataloges out-of-print Platten, die wichtig für uns waren von Künstlern wie Giovanni Venosta oder Gilius van Bergeijk, um nur einige zu nennen, zu widmen. Aber dann haben wir uns entschieden, uns auf die jetzige Welt, in der wir leben, zu fokusieren und eine wachsende Zahl von Künstlern, die jetzt aktiv sind, zu unterstützen. Der Re-issue – Markt ist tatsächlich ein anderer Planet mit seinen eigenen Qualitäten – die politische Geste, verlorene Juwelen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen – und Fallen – den Sinn für Relevanz und Kuration zu verlieren, den spekulativen Nischenmarkt zu füttern etc.”
Wie sieht das Verhältnis von physischen/digitalen Verkäufen der Platten aus?
” Momentan verkaufen wir mehr physische als digitale Alben, aber wir können klar sehen, dass, speziell seit Anfang Jahr, der digitale Markt schnell wächst.”
Wie ist eure Erfahrung mit Verkaufsplattformen wie Bandcamp, Soundcloud etc.?
” Wir nutzen Bandcamp und Soundcloud. Bandcamp ist großartig und sehr unterstützend, was die Verkäufe, sowohl von digitalen wie physichen Veröffentlichungen anbelangt, aber Soundcloud bietet mehr Flexibilität für das private Streaming an.”
Denkst du, dass die Nachfrage an Vinylplatten weiter steigen wird?
“Nein.”
Wie ist es um die Fanzine-Szene bestellt? Denkst Du, kleine Publikationen haben weiter Einfluss oder kanalisiert sich die ganze Undergroundszene in The Wire?
” Fanzines scheinen weniger einflussreich zu sein, als noch vor ein paar Jahren und The Wire ist definitv eine Hauptreferenz und sehr wichtig. Wenn ich dir auch nicht sagen kann, dass eine gute Kritik irgendeinen Einfluss auf die Verkaufszahlen hat, ist ein einseitiger Artikel in The Wire ist aber immer noch entscheidend dafür, Gigs organisieren zu können. In letzter Zeit scheint es mir, dass es zunehmend schwerer, wenn nicht gar unmöglich wird, eine Besprechung ohne Presseagenten (den wir uns unglücklicherweise nicht leisten können) zu bekommen.”
Arbeitet Three:Four Records in der Schweiz mit gleichgesinnten Veranstaltern oder Läden zusammen?
” Unglücklicherweise haben wir nicht genug Zeit dafür, Konzerte für unsere Künstler zu buchen. Aber wir haben gute Beziehungen zu einem Netzwerk in Europa und wir tun unser Bestes unseren Künstlern zu helfen. Ich versuche immer Konzerte in Lausanne zu buchen, während Maxime ein gutes Netzwerk in Frankreich hat. L’association du Salopard, die Konzerte im Le Bourg (Lausanne) veranstalten, Bad Bonn (Düdingen), Cave12 (Geneve) oder l’Oblo (Lausanne) sind Leute, mit denen wir es lieben in der Schweiz zusammenzuarbeiten. Wir haben auch besondere Kontakte zu Les Ateliers Claus in Brüssel oder zum ZDB in Lissabon.”
Ist es weiterhin schwierig über die Sprachgrenzen hinauszudenken?
” Außer Bad Bonn und zu ein oder zwei Plattenläden im deutschsprachigen Raum der Schweiz haben wir sehr wenig Kontakte. Und es gibt nur sehr wenige Bands, die in anderen Teilen der Schweiz spielen können. Natürlich, jeder Teil ist mehr verbunden mit der Szene, die die gleiche Sprache und Kultur teilt, aber ich habe das Gefühl, dass die junge Generation von Promotern und Musikern mehr und mehr zusammenarbeiten.”
Wahrscheinlich presst ihr eure Veröffentlichungen nur in kleinen Auflagen; Norberto Lobo andereseits scheint so etwas wie ein “Bestseller” zu sein, so findet man dessen Platten z.B. in fast jedem Laden in Portugal? “Gewöhnlich pressen wir 300 Exemplare pro Veröffentlichung, außer Norberto Lobo und La Tène, unsere beiden Best Sellers.”
Kannst du etwas über die nächsten Schritte von Three:Four Records sagen?
” three:four records wird 2019 zehn Jahre alt und wir haben verschiedene Ideen, das zu feiern. Wir werden versuchen, unseren Vertrieb und die Präsenz zu verbessern, insbesondere in Europa. Aber, sehr wahrscheinlich, werden wir nur sehr wenige Alben 2019 veröffentlichen.”
Einige Höhepunkte aus dem Labelkatalog:
Anahita – Tourmaline
Helena Espavall und Tara Burke, beide als Solistinnen und in unterschiedlichen introspektiven Free-Folk Formationen aktiv (Espers, Beautify Junkyards, Fursaxa) trafen sich in den Sommermonaten 2010 und 2011, um eine betörend außerweltliche Platte einzuspielen, die die Affinitäten der beiden Musikerinnen – z.B. Mircea Eliade, Hildegard von Bingen, Minimalismus, Renaissance, Kraut, archaische Folkmusik, Drones – in einen ruhigen, geisterhaften Soundtrack für die Vollmondnächte kleidet.
Le Freut Vert – Paon Perdu
Marie-Douce St. Jaques und Andrea-Jane Cornell, ein Duo aus Montreal, begibt sich mit seiner Musik auf die Spuren von solch uneinkategorisierbaren musikalischen Freigeistern wie Un Drame Musical Instantané, Pied De Poule oder Hèléne Sage, also der Creme de la Creme des Pariser GRRR – Labels und deren genialen, intellektuellen Mischung aus Avantgarde, Jazz, Klassik (Lied) und surrealen Chansons. Die große Kunst, Anspruch mit verquerer Zugänglichkeit in Einklang zu bringen, gelingt ihnen auf spielende Weise.
Riccardo Dillon Wanke – Cuts
Die Platte von Riccardo Dillon Wanke für Three:Four Records ist thematisch zweigeteilt. Die erste Seite beruft sich auf literarische Quellen und la puerta condenada explzit auf Das kurze Leben, den bekanntesten Roman von Julio Cortázar. Dillon gestaltet die dramatisch-erzählerischen Songs mit Electronics, Synthesizern und preparierter Gitarren im Stile eines experimentellen Alleskönners wie John Parish. Die kürzeren Songs auf der zweiten Seite stehen eher in der Tradition von improvisierter Musik und zeigen eine andere Seite des zwischen Hamburg und Lissabon pendelnden italienischen Musikers.
Amute – Savage Bliss
Amute aka Jérôme Deuson gibt sich auf Savage Bliss gewohnt düster-opulent. Nach einem elegischen Einstieg nimmt der Melancholieschweregrad an Fahrt auf und die Musik neigt zum Bombastischen. Deusons Musik ist, weiß man die jeweiligen Linernotes entsprechend zu deuten, immer auch eine Art Tagebuch, ein Travelogue über die meist schwierigen und dramatischen Begebenheiten des (seines)Lebens.
Denki Udon – ZDB
Norberto Lobo hat sich durch seine, inzwischen zahlreichen, Veröffentlichungen, Solo- und mit unterschiedlichsten Bands, einen Namen in Portugal erspielt. Auch die drei Solo – Alben auf Three:Four sind im Rahmen der bescheidenen Auflagen eines Avantgarde-Labels vergleichsweise Bestseller. Mit Giovanni Di Domenico (Fender Rhodes) und Tatsuhisa Yamamoto (drums) gibt es von Lobo auch eine stilistisch aus dem Rahmen fallende Aufnahme eines Konzertes, das im ZDB mitgeschnitten wurde. Hier machen sich die drei Musiker zu einer sphärisch verschwurbelten Himmelsfahrt auf, bei der Fusion, Blues und Rockelemente keine Schimpfworte sind, sondern probate musikalische Genres, um dem Wahnsinn in ein Korsett zu stecken, das sozusagen der Grenzenlosigkeit Grenzen setzt, um sich nicht komplett der Schwerelosigkeit hinzugeben.
Filipe Felizardo – The Invading Past and Other Dissolutions
FF gehört zur jungen Garde von talentierten Gitarristen in Portugal, die vortrefflich traditionelle mit zeitgenössischen Einflüssen in ihrer Musik verbinden. Die ruhige, selbstvertändlich melancholisch-inspirierte, und gelassen wirkende Schönheit der instrumentalen Gitarrenmusik eines Carlos Paredes hat einen ernormen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen ausgeübt, so auch bei FF. Filigrane, getragene Melodien wechseln sich mit Ausflügen in den Noise ab, und alles passt wunderbar zusammen.
Razen – The Xvoto Reels
Razens “hardcore melodic minimalism & raw dystopian deep listening” – Kompostionen werden mit The Xvoto Reels um ein weiteres Kapitel erweitert. In einer Kirche aufgenommen, wo es bei den Aufahmen zu einigen Merkwürdigkeiten gekommen sein soll – phantomhafte, zusätzliche Klänge bzw. Aussetzer, irgendwo aus dem Hall und Echo der akustischen Begebenheiten der Kirche enstanden, sind auf dem Tape zu finden – verstärken den andersweltlichen Geist, der der Musik von Razen immer irgendwie innewohnt, noch mehr. Eine der wegweisendsten musikalischen Formationen derzeit, fraglos.
Aus früheren mikrowellen Reviews:
Ruth – Far From Paradise
http://www.mikro-wellen.net/wordpress/ripples-januar-2013/
Eloïse Decazes & Eric Chenaux – La Bride
http://www.mikro-wellen.net/wordpress/ripples-may-2017/
Mehr Infos:
Ripples February 2018
February 28th, 2018
Auf der Suche nach dem Inneren des Tons: Ameel Brecht und Joana Gama
Beim Kraak – Festival 2017 in Brüssel mildert Ameel Brecht, seines Zeichens Mitglied der transgressiven Formation Razen das harte Herunterkommen nach zwei Tagen eklektischen musikalischen Überschwangs mit introspektiven, traurigen, komplett aus der Zeit gefallenen Songs, die er mit Gitarre und Mandoline vorträgt – während an diesem verregneten Sonntag noch manche den Brunch im Beurschouburg-Café goutieren.
Bei Razen spielt Ameel Brecht Monochord (über einen Resonanzkasten gespannte Saiten), Schalmei, Santur oder wie auf der letzten Veröffentlichung Kirchenorgel. Die Musik von Razen, meist mit noch anderen historischen und selten verwendeten Instrumenten wie Dudelsack, Hurdy Gurdy, Ondes-Martenot gespielt, ist improvisiert, klingt mit ihrer Mischung aus dem Spektrum von Obertönen und Drones, gepaart mit merkwürdigen Beats, die wiederum von Sequenzern und modularen Sythnesizern stammen, unverwechselbar und übt einen faszinierenden Sog aus. Außenseiterbands wie Popol Vuh oder Excepter werden als Vergleich für die Musik von Razen herangezogen, aber dies ist wie so oft eher der Schwierigkeit geschuldet, Musik beschreiben zu können. Auf Polygraph Heartbeat ist Ameel Brecht auch auf der Suche nach dem Inneren des Tons, die Songs sind aber streng komponiert, die Vorbilder und Seelenverwandte sind, wenn überhaupt, bei Meistern aus der Renaissance und neuzeitlichen europäischen Gitarristen wie James Blackshaw, Carlos Paredes oder Felipe Felizardo zu suchen. Die beinahe klassich anmutende Musik Ameel Brechts verkörpert Ruhe, Stille, Konzentration und eine tiefe Melancholie. Können und Technik, so Brecht, sind wichtig, Virtuosität allein ist aber überhaupt nicht gefragt, wenn etwas Besonderes entstehen soll.
Beim Festival Rescaldo, das im Februar in Lissabon stattfand, traten mit Joana Gama, Joana Guerra und Maria da Rocha drei Musikerinnen auf, die unter anderem miteinander verbindet, dass sie auf eine musikalische Ausbildung im klassischen, akademischen Bereich zurückblicken können und in Orchestern und Streichquartetten spielten, aber den elitären Zirkel zugunsten des finanziell unsicheren Bereich der experimentellen Außenseiter-Szene aufgaben.
Maria da Rocha, die Viola und Geige spielt, veröffentlichte gerade auf dem Label shhpuma Beetroot & other Stories, das Lärm mit Ambientaufnahmen verbindet, unter anderem eine Horrorgeschichte für Kinder bietet und beweist ihre Affinität für das Unangepasste auch damit, dass sie sich nicht scheut, für Ihre Klangwelten ihr Instrument mit Synthesizer zu kombinieren. Ihre Einflüsse – Ligeti, Feldman, Niblock – , Freigeister der Neuen Musik, vertragen sich durchaus gut mit ihren jüngeren musikalischen Neigungen.
Joana Guerra wäre ihr Instrument, das Cello, verleidet, hätte sie nicht ihre akademische Laufbahn aufgegeben und einen anderen Weg gefunden. Ihr wunderbares Album Cavalo Vapor ist weiterhin schwer zu empfehlen.
Die Pianistin Joana Gama schließlich, zieht auch das weiße Blatt dem Notenblatt vor, obwohl sie in den vergangenen beiden Jahren sich intensiv Erik Satie und dessen 150 Geburtstag 2017 gewidmet hat. Gerade führte sie als grenzgängerisches Experiment, selbsterfahrend, auch für das Publikum 14 Stunden ohne Pause Vexations auf, ein zentrales, meditatives Stück Saties, das Joana Gama auch schon 2016 beim Festival Jardins Efémeros in Viseu spielte.
Mit Luís Fernandes, dessen musikalischer Background im Bereich elektronische Ambientmusik und Indiepop verankert ist, nahm sie 2014 das Album Quest auf, ein Highlight des sshpuma Kataloges, das mit seiner sympathischen Uneinsortierbarkeit sämtliche Klassifizierungen aushebelt und subtile Sprödigkeit mit sphärischer Melancholie und mit aufbrausenden Momenten koppelt.
Für das aktuelle Album erweiterte sich das Duo um Ricardo Jacinto, der Cello und Electronics spielt. Für die sechs Kompositionen nahmen die Musiker das Satie-Jubiläum als Inspiration, was direkt bei den Titeln wie Edification en forme de Ogives oder Mémoires en forme de Vexations zum Ausdruck kommt, aber vor allem in der musikalischen Haltung, die, obwohl die Musik des Trios sich in ganz andere Bereiche der experimentellen Musik vorwagt, den musikalischen Geist Saties weiterträgt, der in seinen stilleren Momenten, ruhende, meditative und nicht nur manchmal melancholische Anwandlungen hat.
Ameel Brecht – Polygraph Heartbeat (Kraak)
Joana Gama, Luís Fernandes, Ricardo Jacinto – Harmonies (shhpuma)
Ripples
June 19th, 2016
Razen – Endrhymes
von Calhau! – ú
Sonderbare Musik für sonderbare Leute, d.h. in diesem Fall zwei neue Produktionen auf Kraak.