Ripples Juni 2012
June 28th, 2012
Opposite Sex – The Opposite Sex
Time To Go – The Southern Psychedelic Moment 1981-86
Die Neuseeländer Lucy Hunter, Fergus Taylor und Tim Player aka The Opposite Sex beteuern, die Songs auf ihrem luzid-verqueren (Pop?-)Album gleichen Namens seien ohne den Schatten der schwerlastenden Tradition entstanden. Das ist natürlich als reine Koketterie zu bewerten, haben doch schon die Protagonisten der 1980er Jahre von Flying Nun ihre Verehrung für Velvet Underground bei beinahe jedem Projekt spüren lassen. Opposite Sex’s Album klingt 25 Jahre später ähnlich nostalgisch und modern zugleich. Ihre Stücke haben einerseits die esoterisch-versponnene Schönheit von Marie & The Atom (deren Hauptprotagonistin Sarah Westwood später passenderweise eine Laufplan als Choreographin in den USA einschlug) und die andersweltliche Psychedelik von The Chills verinnerlicht, aber auch, bei der tougheren Hälfte des Albums, die VU-Gitarren von The Clean oder The Gordons. Der rohe DIY-Mülleimer-Sound wirkt dabei auch heute weit erfrischender als der glatte “Power”-Revivalbombast der angesagten Postpunkkopien. Lucy Hunters Gesangsstil darf man wohl als ungebrochene Hommage an Mo Tucker einstufen.
Da passt es gut, dass Flying Nun seinen Independent – Status zurückgewinnen konnte, als Gründer Roger Shepherd das Label von Warner zurückkaufte. Time To Go – The Southern Psychedelic Moment 1981-86 ist eine von Bruce Russell kompilierte, exzellente Zusammenstellung der wichtigsten FN = NZ – Bands der 1980er. Die Offensichtlichen und die Obskuren decken mit den zwanzig Stücken die ganze Spannbreite des Labels ab, dass immer schon mehr als die Summe der einzelnen Teile/Gruppen/Stile war. Etwas zeitverschoben, so kann man in den Linernotes lesen, hatte auch Neuseeland seine eigene Punkexplosion. Die weiße Bevölkerung Neuseelands definierte sich bis anhin über Farmen, Bier und Rugby. Die konservative Regierung hatte neben vielen anderen Unwägbarkeiten mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, Isolation und ihrer eigenen Verbiesterheit zu kämpfen; Nährboden für florierende Subkulturen, die Fanzines herausgaben, Bands gründete, Läden eröffneten… und The Fall auf Platz 1 der nationalen Charts hievten.
Ripples Oktober 2011
October 22nd, 2011
Factory Star – Enter Castle Perilous
Factory Star ist die seit 2008 existierende, neue Band von Martin Bramah. The Fall-Gründungsmitglied – natürlich – mit The Blue Orchids führte er 1982 wochenlang die Independent-Charts an, mit einer Musik, die heute zu rauh und unfertig klänge, um überhaupt gehört zu werden. Oder? Das ist also völlig überraschend und unerwartet der Anknüpfungspunk für Enter Castle Perilous. Das Album wurde unter Live-Bedingungen im Studio eingespielt. Die Stimmung ist eine trübe, die Befindlichkeit eine misserable, von der Laune gar nicht zu reden. Dabei lesen sich Titel wie The Fall Of Great Britain, Arise Europa! oder When Sleep Won’t Come natürlich zeitgemäßer als vielleicht ursprünglich gedacht. Bramah brummelt sich in bester Manchester-Manier durch die Stücke, Gitarre, Bass und Drums trashen knorztrocken und präzise, die Keyboardlinien von Hop Man Jr. und die Backing-Vocals von Ann Matthews (von der unterbewerteten walisischen Band Ectogram) setzen die melodischen Kontrapunkte. Die Musik also altmodisch, aber nicht aus der Zeit gefallen: Black Comic Book, erwähntem When Sleep Won’t Come und New Chemical Light sind drei der stärksten Bramah-Kompositionen, die sich mit Work, A Year With No Head und Agents Of Change messen können.
Magazine – No Thyself
Mit Howard Devoto, inzwischen 59 Jahre alt, legt ein weiterer wegweisender New Wave – Grantler seinen Postkarrieren – Job ( Fotoagentur) auf Eis und meldet sich wieder zu Wort, die Zeiten scheinen auch ihn zu inspirieren. Devotos Texte waren bei all seinen Projekten immer mindestens nah am Genialen, musikalisch überzeugten nach Real Life aber vor allem sein Solo-Album Jerky Versions Of The Dream, das gemeinsame Projekt mit Pete Schelley Buzzkunst und die beiden Luxuria – Platten, alles freilich kommerzielle Flops. Das Wiederaufleben von Magazine ist daher umso erstaunlicher. Der für den Sound enorm wichtig gewesene Gitarrist John McGeoch ist verstorben – dessen Position übernahm der Luxuria-Partner Noko – , Barry Adamson hat Anderes zu tun, ansonsten hört man auf No Thyself die Besetzung vom Jahr der Auflösung 1981. Magazine 2011 klingen dann auch (erschreckend?) authentisch und werkstreu: Unterkühlter Wave-Funk-Bass, flirrende Keyboards, Goth-Gitarre wie auf dem Debut, der absurd-überkanditelte Kunstgesang Devotos wurde allerdings selten ätzender und treffender in Szene gesetzt.
Ripples September 2011
September 9th, 2011
The Wild Swans – The Coldest Winter For A Hundred Years
Liverpool, jahrzehntelang traumatisiertes Epizentrum des weitgreifenden industriellen Niedergangs Großbritanniens, mit einer größeren Völkerabwanderung als jede andere Stadt, übt sich seit einiger Zeit in der gigantisch angelegten Stadterneuerung: Shopping Malls anstelle von zugenagelten Innenstadthäusern, Luxusapartments in den lange dahinsiechenden Docks, Museen und Spektakel als Begleitung zu den 800-Jahre– und Kulturhauptstadt 2008 – Feiern, Phönix rückt den Liverbirds aufs Gefieder. Der “Regeneration” fallen aber auch eine halbe Million, zum Teil noch bestens erhaltener Wohnhäuser, die jahrelang leerstanden und zu Spekulationsobjekten wurden, architektonisch stilprägende Kaufhäuser und kulturelle Einrichtungen zum Opfer. Nach Ladenschluss torkeln die Besoffenen und die Obdachlosen nun durch das neue Glitzerparadies und lassen sich dabei vom freundlichen Summen der sich auto-justierenden CCTV-Kameras begleiten.
Paul Simpson beklagt die zunehmend velorengehende kulturelle Identität, die sich seit den 1960ern über ein kreatives Außenseitertum definierte, die Stadt prägte und einzigartig dastehen ließ. Diesmal die Demütigungen unfähiger Produzenten vermeidend, ist The Coldest Winter For A Hundred Years nun das stark autobiographisch beinflusste Wild Swans-Album geworden, wie es gedacht und lange angekündigt war. Während der andere große Chronist Liverpools seit den 1980ern Michael Head aus einer stark introspektivistischen Sichtweise abstrakter textet, schreibt Paul Simpson neben persönlichen Stücken über Jugend, familiäre Lebensläufe und Freundschaften auch über die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen (zum Guten? Zum Schlechten?): die 80er-Jahre Punkzeit, die Riots, architektonische Verwahrlosung; Texte, die teilweise auch für einen Gedichtband bzw. einer Biographie konzipiert waren. Desperation (‘My town used to fill my head with wonder, yeah / now it fills me with disgust/…And a grimmer time I can’t recall / Like ancient Rome we start to fall/ Like Ringo, John and George and Paul / It’s breathed its last / it’s dead / it’s over now ) und anarchischer Widerstand ( ‘ Once, all this was silver birch / Scots pine and English yew / Hawthorn where Aldi stands / Come now, we can plant anew / And crack wide Tesco’s aisles / With acorns from the ground / Quintillions of sacred atoms cluster and collide’ ) halten sich die Waage und die Musik bewegt sich ebenso zwischen diesen emotionalen Polen, zwischen klassischen Mersey-Beat-Hymnen für die Jetztzeit und zeitlosem Folk, zwischem ironischem Pathos und coolen Understatement.