Ripples
August 26th, 2022
Arlt – Turnetable
Midget – Ferme Tes Jolis Cieux
Vor allem in Paris und Brüssel führen die aus verschiedenen alternativen Mikroszenen entsprungenen Protagonisten wie Eloïse Decazes, Sing Sing, Claire Vailler, Mocke, Élg, Délphine Dora und einige mehr die Tradition von vom Surrealismus inspierierten Künstler und schrägen Songschreiber im Geiste von Brigitte Fontaine, Albert Marcoeur oder dem songorientierten Album von Sophie Jausserand und Guigou Chenevier aus dem Etron Fou Leloublan – Umfeld wunderbar fort. Ihre Platten erscheinen auf Labels von mittellosen Überzeugunstätern wie Three:Four, Kraak, Ultra Eczema oder wie Ferme Tes Jolis Cieux von Midget und Turnetable (sic!) von Arlt auf Objet Disque, dem exquisiten Label des Pariser Künstlers und Musikers Rémy Poncet.
Das dritte Album von Midget, nach zweien auf dem We Are Unique – Label – ließ einige Zeit auf sich warten und war, als es dann 2017 veröffentlicht wurde, etwas untergegangen. Clarire Vailler sang zwischen den Alben unter dem Namen Transbluency verhuschte Folk-Songs in Englisch ein; Mocke komponiete zwei Solo-Alben und sein drittes – Parle Grand Canard – eine moderne Suite und ein wahrer Geniestreich, wurde sicherlich von der Kollaboration mit Clarie Vailler inspiriert. Die Ideen für dieses Album lassen sich unschwer schon auf Ferme Tes Jolis Cieux ausmachen. Die Songs verbinden die Vorlieben von Mocke und Vailler zu einem Album voller bizarrer Schönheit und stilvoller Geheimniskrämerei.
Aus der Zeit gefallen wirkt schon einmal das zehnminütige Eröffnungsstück: Premier Soleil klingt wie ein von der Renaissance, der Zwischenzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit beeinflusster Geistersong: filigran, morbide, poetisch und auch mal beswingt. Das ganze Album hat einen starken klassischen Musik-Touch, was nicht zuletzt an der Instrumentation mit Flöte, Vibraphon, Mellotron und Cello liegen mag. Disharmonien, Drones und kleine Intermezzos beißen sich elegant mit den von akustischer Gitarre und Piano getragenen Songs.
Arlt, die Band von Eloïse Decazes und Sing Sing war ebenfalls aufgrund zahlreicher anderer Projekte für eine Zeit auf Eis gelegt gewesen (Kolloaborationen mit unter anderem Délphine Dora, Eric Chenaux, Stranded Horse, Julien Desailly, Begayer). Ihre neue Platte – Turnetable – ist daher umso mehr eine willkommene Überraschung. Einige Gastmusiker, die zugleich Freunde sind und natürlich auch dem losen Netzwerks der Undergroundmusik von Brüssel und Paris angehören tragen zum ungemein facettenreichen und heterogenen Gesamtbild der Songs bei: Ernest Bergez (Kaumwald, Orgue Agnès), Jérémie Sauvage, Gilles Poizat, Béatrice Terrasse.
Die früheren Alben klangen manchmal wie amerikanische Folksongs auf Französich, Turnetable wirkt dagegen europäischer, surrealer und futuristischer. Die zahlreichen Anleihen an verschiedene Genres lässt die Musik wie eine aus dem Ruder gelaufene Salon- oder Kammermusik klingen. Lässig und sophisticated; schräg und doch eingängig; das ist der Stoff aus die Träume vom perfekten Song sind. Und Eloïse Decazes singt andersweltlich und kosmisch schön über eine Untertasse, die auf einem Hund landet, Oldtimer oder eine kranke Kuh.
Ripples
May 5th, 2022
BRDCST – Festival Bruxelles 2022
Als legitimer Nachfolger des Domino-Festivals, das jahrelang in Brüssel die zukünftigen angesagten Underground-Acts und Geheimtipps an einem Ort versammelte, dient nun die retro-futuristische Birminghamer Band Broadcast und deren Musik den Veranstaltern des BRDCST-Festivals als Inspiration für musikalische Innovationen. Trotz dem frühen Tod von Trish Keenan und den wenigen Alben, die Broadcast veröffentlichen konnte, spannt ihre Musik doch einen wunderbaren Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft.
Während der drei Tage der 2022-er Ausgabe des BRDCST-Festivals wurde man dann nebenbei auch nochmals einem kontinuierlichen Brainwashing unterzogen, lief die Musik der Band doch während der Pausen auf Dauerbetrieb im Shuffle-Modus. Im altehrwürdigen, aber auf den neuesten Stand gebrachten Ancienne Belgique – AB – konnte man sich fast wie in alten Zeiten fühlen: Ein exquisites Programm quer durch die Underground-Genres, das gewohnt offene Brüsseler Publikum und starkes belgisches Bier. Wäre es dann nicht doch noch zur einen oder anderen pandemiebedingten Absage gekommen, man hätte die vergangen zwei Jahre für einen Spuk halten können.
Am ersten Abend standen die ugandischen Untergrund-Labels Nyege Nyege und Hakuma Kulala aus der Hauptstadt Kampala im Fokus, die, Internet ausnahmsweise sei Dank, sich durch ihre Version von Außenseiter-Klub-Musik einen guten Ruf, auch international, erworben haben, und deren “Star” fraglos MC Yallah ist. Ihre elektrisierende Musik, ein ungemein anregendes Gebräu aus Grime, futuristischem Hip Hop und Punk, und ihre imposante Performace und Statur wird durch den franzsösischen Musiker und DJ Debmaster noch zusätzlich geschärft und geschliffen.
Ecko Bazz, anschließend im Clubraum zu sehen, konnte man dann als die maskuline Ausgabe von Yallah, ohne ihren Charme, durchgehen lassen. Das Perkussions-Trio Arsenal, das furios treibende Rhythmen mit einem gespenstischen Nachhall von Refrains traditioneller Songs verband, zog das Publikum wohl so in den Bann, dass sie am darauffolgenden Abend gleich nochmals für die nicht auftreten könnende Circuit Des Yeux gebucht wurden.
Gut hätte stilistisch auch Jana Rush aus der Chicago-Szene zu diesen Overdrive-Künstlern aus Kampala gepasst, wobei sie ihren schnellen und harten Beats inzwischen die eine oder andere verschwurbelte Prise anderer experimenteller Genres beimischt.
Neben dem legendären Ruf der Technoakrobaten hallt der, des Jazz-Avantgarde-Kosmos in Chicago und New York gleichfalls in die weite Welt.
Mit der Trompeterin, Sängerin, Poetin Jaimie Branch, einer Schwester im Geiste von Matana Roberts, und ihrer Band, die mit einer sympathischen punkigen Attitüde Free Jazz, Avantgarde, melodische Einsprengsel und explizite politische Aussagen in Einklang bringen, steuerte man einerseits dem Höhepunkt des ersten Abends zu und konnte glauben, dass im Nach- oder wieder Prä-Trump-Land doch noch nicht alles verloren zu sein scheint.
Für das stille, aber nicht minder interessante, Hintergrundsprogramm im leider platzmäßig arg limitierten Salon im Obergeschoss, sorgten die zu recht gefragte Cellistin Lucy Railton und die belgische Farida Amadou, die mittels Fenderbass erstaunliche Klänge hervorbringen konnte.
Durch die Ausfälle der Hauptacts Circuit Des Yeux und Hiro Kone am zweiten Abend rückten andere Musiker in den Mittelpunkt, z.B. Christina Vantzou. Im nun mit einer Zuschauertribüne versehenen Theaterraum brachte sie den typischen Kranky Records-Sound in die belgische Hauptstadt: Lang angelegte, ambient-meditative aber suggestive Drone-Kompositonen, die man gerne als post-klassisch bezeichnet. Der sympathische Eigenbrötler Yosuke Fujita widmete sich zuvor seiner selbtgebauten, etwas futuristisch aussehenden Orgel aus elf Pfeifen und findet sich mit seiner orginellen Musik plötzlich im allgemeinen Genre-Name-Dropping unter hipperen Zeitgenössinen wie Anna von Hausswolff und Kali Malone wieder.
Das vielleicht typische Londoner urbane Gebräu aus Dub, Post-Punk und Grime bediente Wu-Lu vortrefflich, während Bitchin Bajas ihr hochgelobtes Tape Switched On Ra live präsentierten. Letzteres für meinen Geschmack ein ziemlich unverdauliches Gebräu aus Eso-Kitsch, verquirltem Hippie-Getue mit affektierten Gesang. Schnell noch mal raus auf die Straße und um die Ecke auf dem Boulevard Anspach sich dem hochprozentigeren, aber bekömmlicheren belgischen Gebräu gewidmet war die kurzfristige Lösung des Problems.
Im Salon verzauberten und versöhnten dann aber wieder die Solo-Performances der Neue Musik- Klangkünstlerinnnen Elisabeth Klinck (Violine, Elektronik) und Judith Haman (Cello).
Eine belgische All-Star-Band interpretierte am Sonntag anlässlich des fünfzigsten Erscheinungsjahres von Tago Mago den Klassiker von Can in voller Länge.
Im Salon ging es nochmals intimer zu: die Violinistin Catherine Graindorge präsentierte unter anderem ihr ausgesucht schönes Solo-Album Eldorado, das mit ihren Streicherarrangements und elektronischen Verfremdungen und filmischen Kompositionen an ähnlich melancholisch veranlagte Zeitgenossen wie Julia Kent odert Sarah Neufeld erinnert.
More Eazes und Seth Grahams Musik als —__–___ wirkt klaustophobisch und anderweitig beklemmend, einerseits, aber auch in die Zukunft gerichtet und überweltlich schön. David Sylvian scheint Fan zu sein, und so atmospährisch und eklektisch wie seine Solo-Alben ist auch die Musik des Duos.
Einer der Schwerpunkte des diesjährigen Festivals und Artist – In – Residence war die britische Perkussionistin Bex Burch, die – hyperproduktiv – gleich drei ihrer so unterschiedlichen wie hochkarätigen Bands bzw. Kollaborationen vorstellte. Das Ghanaian Xylophone, Gyil genannt, ist das bevorzugte Instrument ihrer Wahl. Im Gegensatz zum traditionellen, rituellen Gebrauch, oft als Begleitung bei Beerdigungen, führt einen Bex Burch in beswingtere musikalische Aggregatszustände. Nachdem sie das Spielen teilweise in Ghana selbst studierte, entwickelte sie in zurück in England eine modernisierte Version des Instruments, das auch elektronisch gekoppelt werden kann.
Zusammen mit Leafcutter John nahm sie während der Seuchenzeit via Zoom ein Album auf, das, wie man sagt, deutlich mehr als die Summe der Einflüsse und Qualitäten der beiden Musiker bietet. Live klang die Fusion aus futuristischer Library-Music, dem hier elektronisch klingenden Gyil und ambienten bis verschwurbelten Synthesizerklängen fesselnd.
Vula Viel, ihr Trio mit Ruth Goller (Bass) und Jim Hart (Drums), dagegen ist wieder ein ganz andere Geschichte, vermischt aber nicht weniger waghalsig unterschiedliche Stile: Ein unterkühltes Post-Punk-Flair mit treibenden Rhythmen à la der World Music Fraktion von Crammed Discs und Neue Musik-Minimalismus nämlich.
Auf Strut Records, einem Londoner Label, das sein Schaffen der jungen Jazz-Szene, aber auch dem Vermächtnis von Sun Ra widmet, erschien dieses Jahr das Debut-album von Flock.
Bex Burch spielt hier mit unterschiedlichen Musikern aus der alternativen Londoner Szene zusammen: Danalogue (fender rhodes), Sarathy Korwar (drums, tabla), Al Macsween (prepared piano) und Tamar Osborn (bass clarinet, soprano sax). Zwischen Groove, Melodie, Introspektion, kosmischem Free Jazz und nordafrikanischen und indischen Einflüsse spiegelt die Musik von Flock die hyperheterogene Musikszene Londons wieder, und das wirkt auch auf der Bühne in Brüssel brilliant und mitreißend.
Tirzah und Mica Levi lernten sich an der Purcell School for Young Musicians in Hertfordschire kennen und daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die sich auch kreativ in gemeinsamen Projekten und gegenseitigen Gastbeiträtgen niederschlug. Die geschulte Komponistin und Produzentin Levi (Micachu, Good Sad Happy Bad, diverse Filmscores etc.) ermunterte Tirzah ihre Bedroom-erprobten Songs so unverkünstelt und roh wie sie sie zu hören bekam, aufzunehmen. Ihre beiden Alben – Devotion und Colourgrade – bestechen deshalb durch scheinbare Einfachheit, die dahingeschludert wirken mag, aber letztlich doch bis ins kleinste Detail durchdacht ist. Tirzahs warmer Gesang kleidet ihre melancholischen, windschiefen Songs in emotionale Lullabies, die nachhaltig Spuren hinterlassen. Auf das absolut Wesentlichste reduzierte Versatzstücke aus Dub, R & B, Ambient, Noise, verschleppte Beats und Pop lassen ihre Musik zugleich traditionsbewusst, cool wie zeitlos erscheinen.
Mit Coby Sey als geistesverwandtem Illustrator ihrer Songs bezauberte Tirzah auch live – obwohl die Bühne des großen Saals des AB für die intime Darbietung etwas überdimensioniert wirkte – das Publikum vom ersten Ton an. In einer sympathischen Mischung aus Understatement und Selbstbewusstsein sang sie ohne jegliche Inszenierung oder gar Bühnenshow eine Auswahl der Songs ihrer beiden Alben.
Jenny Hval stellte – sozusagen als Headlinerin am Sonntag – ihre neues, pop-affines Album vor, das aber letztlich immer noch Off-Stream ist. Intellektuell, vertrackt und textlastig in merkwürdige Nischen-Genres abtauchend, dann aus dem Nichts wieder einen Ohrwurm-Refrain hervorzaubernd – so kennt man die norwegische Künsterlin, Schriftstellerin und Musikern seit ihren ersten Gehversuchen im Umfeld von Noise – Master und Produzent Lasse Marhaug.
Verschwurbelt-abstrakte Texte, trockene Ironie und Pop-Hooks widersprechen sich im Universum von Jenny Hval nicht, ganz im Gegenteil, sind sie doch die Essenz ihres von Album zu Album immer weiter perfektionierten Handschrift. Ihre bemerkenswerte, sich immer wieder wandelnde Stimme hat von glockenhell bis cool und klassisch alle Nuancen drauf. In Brüssel präsenentiert sie mit ihrer aktuellen Bandüberwiegend das neue Album Classic Objects.
Jenny Hvals Entertainer-Qualitäten sind angesichts der komplexen Songs und kopflastigen Lyrics durchaus ein wenig überraschend. Sie gestaltet jeden Song und nimmt die Bühne mit einer starken Präsenz ein, und die Band – Johan Lindvall, Havad Volden, Hans Hulbaenko, Vivian Wang weiß zu grooven. Ironischer Smalltalk mit dem Publikum und das Auftreten einer Post-Punk-Band gleich, aus einer Zeit also, in der Inhalte und Attitüde noch etwas bedeuteten, konstrastieren schön mit der zeitgemäßen Musik und den ironisch bekleideten Rollen.
Ripples
April 25th, 2022
Otherworld – Mad Wee Light
Time Binding Ensemble – Nothing New Under The Sun
Teresa Winter – Drawning By NumbersN
café kaput – maritime: themes & textures
Stealing Sheep & The Radiophonic Workshop – La Planète Sauvage
Movietone – Peel Sessions
Die umtriebige multidisziplinäre Glasgower Künstlerin und Musikerin Kay Logan kann auf eine kleine, aber treue Fangemeinde zählen, zu der auch die Macher des Londoner Kit Records—Label zu rechnen sind, die zwei so unterschiedliche wie brilliante Alben Logans kürzlich auf Vinyl wiederveröffentlichten und ihnen damit ein würdiges Format angedeihen ließen. Kay Logan machte sich in der Glasgower Undergroundszene mit Gruppen wie Anxiety und Herbert Powell und Verbindungen zum einflußreichen Night School-Label schon einen Namen, bevor sie solo als Helena Celle, Otherworld oder dem Time Binding Enemble zusätzliche Verwirrung stiftete. Das Album Mad Wee Light, dessen Kompositionen lose an solch uneinsortierbare und stilprägende Gruppen aus dem britischen Post-Punk-Underground wie Zoviet France, Legendary Pink Dots oder Nocturnal Emissions erinnern und doch zeitgemäß klingen, verströmt einen Hauch von solitärer Außerweltlichkeit. Die mit Synthies und Tapeaufnahmen von diversen Instrumenten eingespielten Aufnahmen sind miniaturisch angelegt. Die siebzehn Stücke ziehen einen mit ihrer unfertig wirkenden, windschiefen Atmosphäre unweigerlich in den Bann. Grundsätzlich immer von einer Melodie ausgehend, driftet die Stimmung der Stücke fließend zwischen Noise und meditativen Klangflächen: verschwommene Nebellandschafen, unwirklich-spukhafte, sturmumtöste, einsame postindustriellen Landschaften kommen einem in den Sinn. Reduktionistische Loops und Drones verbinden sich zu einem melancholischen Nachhall britischer Folklore.
Nothing New Under The Sun, Kay Logans neo-klassisches Seitenprojekt unter dem Namen Time Binding Ensemble, beschwört in 24 gleichlangen Teilen á 3.40 Minuten eine ähnliche elegische, unwirkliche Stimmung herauf, aber mit einem anderen Konzept. Inspiriert von der bröckelnden Architektur der brutalistischen St. Peters Kirche im Umland von Glasgow und den Schriftstellern Alasdair Gray und Austin Osman wurde die Musik mit einer Computersoftware komponiert. Als Hörer kommt man nicht umhin, sich von den teilweise mit einer nicht klassifizierbaren Patina überzogenen Streich- und Bläserarrangements in eine beinahe transzendale Stimmung versetzen zu lassen. Wie in einem Kreis oder einer Sonnenuhr durchwandern die einzelnen Stücke alchemistisch die Tonskalen und Stimmungen und damit das ganze emotionale Spektrum.
Teresa Winters neues Album lässt diesesmal eine ihrer speziellen musikalischen Vorlieben, die Samples von verwaschenen Diskobeats, die eine melancholische After-Rave-Party-Stimmung suggerieren, außer acht. Sie widmet sich aber auf Drowning By Numbers dafür umso mehr den magisch-aufgeladenen okkulten Scheinwelten, denen man beispielsweise in gälischen Sonnenwendenriten oder den so geheimnisvoll wie abstrakten Filmen Peter Greenaways begegnet. Musique Concrète, Feldaufnahmen, eine Erzählstimme, elektronische oszillierende Klangflächen wie auch Schnippsel von Michael Nymans Soundtrack für Greenaways Film dienen ihr als Quellen, um eine dichte, aber weitgehend ruhige und seltsame musikalische Landschaft zu modellieren, die manchmal an die Größen der der Library-Music wie Delia Derbyshire oder Daphne Oram erinnern könnte, wenn sie denn während ihres künstlerischen Werdegangs am Punk geschnuppert hätten.
café kaput ist eines der alter egos von Cate Brooks – formerly known as Jon Brooks – die sich mit zahlreichen Veröffentlichungen mit subtilsten bis spukhaften elektronischen Kleinoden einen Namen im britischen musikalischen Untergrund gemacht hat, und sich nun mit ihrem neuesten Album – maritime: themes & textures – wieder bei Frances Castles Label Clay Pipe Label zurückmeldet. Bei den Veröffentlichungen als Advisory Circle für das Ghost Box-Label bewegt sich Brooks mehr im Library Music-Kontext und die Stücke sind seriell oder konzeptionell angelegt. Bei denen auf dem eigenen Label oder für Clay Pipe geht sie zwar auch von einem festen Thema aus, die Musik wirkt aber freigeistiger und persönlicher. Von ausgesuchter Schönheit und versteckten Geheimnissen sind die mit elektronischen und akustischen Instrumenten
komponierten Stücke um das Thema Segeln und Seefahrt auf dem aktuellen Album. Die maritime Stimmung und Atmosphäre wird auch hier mit einer größeren Prise Melancholie angereichert. Inshore Waters, Mid December oder A Surface Like Glass sind dann auch passende Titel für die ruhig dahinfließende Musik Brooks, die irgendwo an die genialen Außenposten-Soundtraks aus dem Niemansland von Harmonia und Eno anknüpft.
Die Art-Pop-Band aus Liverpool Stealing Sheep – Rebecca Hawley (vocals, keys), Emily Lansley (vocals, guitar, bass), Luciana Mercer (vocals, drums) – ist seit ihrem Debut 2010 immer wieder für Überraschungen gut. Nicht nur klingt die Musik auf ihren Alben stets sehr unterschiedlich und verbindet im weitgesteckten Universuman der elektronischen Popmusik Catchyness mit Verquerem, Geheimnisvolles mit Abstraktem. Insbesondere bei Live-Auftritten kann das Konzept einer Band, die nicht nur schlicht ihre aktuellen Songs darbieten möchte, in alle unvorhergesehen Richtunge ausgeweitet werden. Spektakuläre Lichtshows, bis zu 40 Schlagzeuger oder Tänzer, die sich zum Trio dazugesellen oder schräge Kunstperformances; vieles ist bei einem Auftritt von Stealing Sheep möglich.
Nun, mit ihrem aktuellen Album, das zum Jubiläum der wegweisenenden Pionierin der elektronischen Musik – Delia Derbyshire – erscheint, ist ihnen aber fraglos ein weiteres Meisterwerk gelungen. Zusammen mit dem wiederbelebten BBC Radiophonic Workshop um Bob Earland, Dick Mills und der klassischen, aus der Zeit gefallenen Erzählstimme von Roger Limb vertonen Stealing Sheep die distopische Science Fiction Animation La Planète Sauvage von René Laloux aus dem Jahre 1973, die mit surrealistische-dadaistischen Elementen und einem psychedelisch-jazzigen Soundtrack zwar einerseits gut in die Zeit passte, aber aufgrund seiner Originalität auch ein Meilenstein des Genres darstellt.
Die Kombination des BBC Radiophonic Workshop mit den nervösen bis ambienten Klanglandschaften von Stealing Sheep, die immer wieder mit Einsprengseln von genialen Melodieeinfällen aufgelockert werden, ist schlicht unwiderstehlich.
In den 1990ern verband man Bristol musikalisch natürlich in erster Linie mit Trip Hop und den Megaseller-Alben von Portishead, Massive Attack und Tricky. Daneben entstanden in der Stadt am River Avon aber auch andere Mikro-Szenen, die teilweise bis heute und bei Bands wie Tara Clerkin Trio ihre Spuren hinterlassen haben und die nun den Geist dieser stilprägenden Szene weitertragen. Kate Wrights und Rachel Brooks Band Movietone veröffentlichte zwar nur drei Alben, aber die verschiedenen Gastmusiker gründeten später nicht minder stilprägende Bands wie Third Eye Foundation, Crescent oder Flying Saucer Attack. Movietone hätten mit ihrer ruhigen und subtilen Musik, die ganz eklektisch, sich stilistisch irgendwo zwischen dem experimentellen Geist der frühen Rough Trade-Veröffentlichungen und dem melodischen Freeflowing der Canterbury-Szene bewegte, größere Aufmerksamkeit verdient gehabt und ähnlich wie Broadcast und Sterolab einen Kultstatus erlangen können. Die bislang unveröffentlicht gebliebenen Peel-Sessions machen dies nochmals deutlich.
Kay Logan, Time Binding Ensemble, Otherworld
Ripples
March 25th, 2022
Maria Da Rocha – Nolastingname
Filipe Felizardo – Red Cross
Clothilde – Os Principios Do Novo Homem
Septeto Interregional – Dito
Hidden Horse – Opala
Die Pandemie trieb die Musiker in den vergangenen zwei Jahren zwangsläufig von der Bühne ins Wohnzimmer oder Heimstudio; immerhin lässt sich trotz allen Entbehrungen und finanziellen Verlusten festestellen, dass weiterhin außerordentlich fesselnde Musik aufgenommen und veröffentlicht wird. Und das auch wieder bevorzugt in physischer Form. Die wenigen noch existierenden Presswerke für Schallplatten können die Nachfrage wiederum nur mit teilweisen enormen zeitlichen Verzögerungen bewältigen, was zum Teil aber auch am absurden Wiederveröffentlichungsboom liegen mag: Wie Cordelia/Deep Freeze Mice – Mastermind Alan Jenkins schon in den 1980ern anmerkte: Nachdem mit dem Aufkommen der CD alle ihre Tubellar Bells und Dark Side Of The Moon – Schallplatten zum Trödler getragen und sie sich die gleichen Alben dann im neuen Format zugelegt hatten, werden nun erneut die gleichen Gassenhauer des Mainstream-Kanons mit dem Einläuten des Vinylrevivals verkauft. Zahlreiche Off-Stream-Labels machen nun aus der Not eine Tugend und entdecken mit der Kompaktkassetten noch ein Relikt aus der vordigitalen Zeit neu.
Wie schon ihr Album “Beetroot & Other Stories”, das auf dem experimentellen Sublabel von Clean Feed shhpuma erschien, wurde das 35minütige Stück “nolastingname” im für Klangforschung bekannten EMS-Studio in Stockholm (Kali Malone, Ellen Arkbro) aufgenommen. Maria Da Rocha; von Haus aus klassisch geschulte Violinistin, verlässt wie ihre lusitanischen Zeitgenossinnen Joana Guerra und Joana Gama gerne das enge Korsett der Hochkultur, um mit zeitgemäßeren Genres und Themen zu experimentieren. Dem Buchla-Synthesizer in Stockholm und ihrer Violine entlockt sie Töne, die bearbeitet und komponiert, in so undefinierbare wie unheimliche Grauzonen vordringen, in denen sich Drones, Post-Industrial, Neue Musik oder Folk vermischen.
Die Violine versucht sich mit zarten und der Erdenwelt entrückt wirkenden Melodien zu behaupten, aber verwaschene Beats, entfernte Trommeln und Synthieschwaden lassen nicht nur Taghelles erahnen und führen direkt in verschwommenere Gefilde des Unterbewusstseins. Wie eine Schwester im Bunde von Sunn O>>> oder Nocturnal Emissions sucht sie in ihrer Musik nach der Schönheit in der Introspektion und mit Stilmitteln der elektronischen Obertonmusik und dem immer wieder faszinierenden Gegenspiel von Atonalität und Schönklang.
Das Septeto Interregional ist eine Formation, die inmitten des ersten Lockdowns auf Initiative des Musikklubs Musicbox und des Labels Lovers & Lollypop als virtuelles Projekt ins Leben gerufen wurde. Sechs Musiker aus der einheimischen Alternativszene wurden per Zufallsprinzip angefragt, ob sie zusammen ein Album aus dem “Home Office” schreiben und aufnehmen wollen. Erstaunlicherweise entstand zwischen der venezulanischen Sängerin Ariana Cassellas von der Band Sereias, Bruno Monteiro (Mr. Gallini, Stone Dead), Rafale Fereiro (Glockenwise), Rodrigo Carvallo (Solar Corona), Violeta Azevedo (Savage Ohm), Zézé Cordeiro (José Pinhal Post Mortem Experience) und Serafim Mendes (Visuals) schnell eine besondere Chemie. Die sieben facettenreiche Stücke, die pop-affin und mit scheinbarer Leichtigkeit Garagenrock, psychedelische elektronische Ausflüge, Folklore mit einem schrägen Latino-Touch und einiges mehr an Einflüssen verbinden, klingen so inspiriert wie organisch, die auf eine längerfristige Zusammenarbeit hoffen lässt.
Felipe Felizardos Lockdown-Tape Red Cross klingt wie eine konzentrierte Zusammenfassung seiner musikalischen Affinitäten und wäre eine logische Fortsetzung der diversen Veröffentlichungen, die der Gitarrist für das Lausanner Label Three:Four einspielte. There’s An Endness To It huldigt nochmals einem seiner Vorbilder – John Fahey – und schließt gleichzeitig diesen Zirkel an Hommagen ab. Elegisch, spirituell knüpft er natürlich nebenbei auch gleichzeitig an die Tradition der großen portugiesischen Gitarristen an. Innehalten und Konzentration sind die Eigenschaften, die in Zeiten der Seuche gefragt sind. When Spring Time Comes Again dagegen ist ein dreißigminütiges Drone-Stück, dass dunkel-noisig die lange Zeit der Isolation reflektiert und nur hier und da etwas lichtere Momente zulässt; die Hoffnung auf den Frühling aka ein Ende der Bedrohung ankündigen mögen.
Mit einer ähnlich angelegten düsteren musikalischen Landschaft hat man es, kennt man ihre Musik, erwartungsgemäß bei Clothildes neuem Tape – Os Princípios Do Novo Homem – zu tun. Clothilde (aka Sofia Mestre) befasst sich nicht nur mit Musik, sondern ist auch Fotographin, Illustratorin, Zeichnerin. Gemein mit ihren anderen künstlerischen Ausdrucksformen ist ihr in der Musik das kolorieren bzw. das freie Gestalten ihrer Strücke mit ihren analogen Synthesizern.
Os Princípios Do Novo Homem entstand in Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Pedro Saavedra für das gleichnamige Stück. 1581 residierte der König Felipe in Lissabon für drei Jahre und wollte eine neue Dynastie entstehen lassen, die eine iberische Handschrift tragen sollte. Das Ergebnis solcher Großmannssucht kennt man und erlebt sie gerade wieder aufs Neue. Eingebettet in oszillierenden Drones, bedrohlichen Beats/Trommelwirbel mit beißenden Noise-Spitzen und teilweiser subaquatischer Atmosphäre ist das epische Ambient – Musik für Fortgeschrittene.
Die zwei Masterminds der vom free-folkigen Psychedelica- und Tropicalismo-Virus infizierten Masterminds der Lissaboner Band Beautify Junkyards – João Kyron und Tony Watts spielen als Fingerübung ein Tape ein, das ihre Ideen nochmals in eine etwas andere, elektronischere, Richtung weiterführt. Im Gegensatz zur Musik mit sonnigem Gemüt der Beautify Junkyards tauchen Hidden Horse in eine imaginäre okkulte Welt ein, dessen Facetten sich aus obskuren Fernsehserien, deutscher Elektronik und einer heftigen Dosis Industrial speist.
Best of 2021
January 5th, 2022
Ein weiteres Jahr Pandemie hat uns in unsere jeweiligen kleinen Universen gefesselt und wenig Spielraum für Überraschungen geboten. Live Events waren selten und fanden in einem merkwürdig gedämpften Rahmen statt. Sind das vorübergehende Zustände oder hat sich die Welt dahingehend geändert, dass wir uns mit diesen neuen Gegebenheiten auch in Zukunft arrangieren werden müssen? Welcher Konsens lässt sich noch erreichen in einer gefühlt zersplitterten Gesellschaft, deren äussere Extreme den Echoraum der Sozialen Medien besetzen und bewirtschaften?
Wir bewahren uns trotz allem einen verhaltenen Optimismus, gepaart mit Neugier und der Offenheit für Experimente, und wünschen uns und allen ein neues Jahr voller positiver Überraschnungen.
Music
Heta Bilaletdin – Nauhoi
Warrington Runcorn New Development Plan– Interim Report, March 1979
Mikis Theodorakis – Axion Esti
The Chills – Scatterbrain
Gaute Granli– Blusens Fasong
Sarah Terral– Le Ménisque Original
Phew – New Decade
Igor Stravinsky – Le Sacre du Printemps
Hattie Cooke– Bliss Land
Filipe Felizardo– Red Cross
Maria Da Rocha– No Lasting Name
Niagara– 1807
Teresa Winter – Motto Of The Wheel
Dohnavùr– The Flow Across Borders
Dry Cleaning – New Long Leg
Blanketman – National Trust
Faust– 1971-1974
José Mauro – A Viagem Das Horas
Goldblum– Of Feathers And Bones
Sons Of Kemet – Black To The Future
Cassandra Jenkins– An Overview On Phenomenal Nature
Tirzah – Colourgrade
Various Artists – Antologia De Música Atípica Portuguesa Volume 3: Canto Devocionário
Aquaserge– The Possibility Of A New Work For Aquaserge
Tassos Chalkias – Divine Reeds
Fatigues – L’Rain
Rebecca Vasmant – With Love From Glasgow
Film/TV
Todd Haynes– The Velvet Underground
Catarina Vasconcelos – A Metamorfose Dos Pássaros
Just Philippot – La Nuée
Christian Petzold – Udine
Brad Ingelsby – Mare of Easttown
Jac Schaeffer – WandaVision
Hwang Dong-hyuk– Squid Game
Sarah-Violet Bliss/Charles Rogers/Michael Showalter – Search Party
Σωτήρης Τσαφούλιας – Έτερος εγώ: Χαμένες Ψυχές
Kaneto Shindô – Onibaba (1964)
John Wilson – How To With John Wilson
Ryûsuke Hamaguchi – Drive my Car
Leos Carax– Annette
Jesse Armstrong – Succession S.3
Shaka King – Judas and the Black Messiah
Ashley Lyle/Bart Nickerson – Yellowjackets
Books
Mariana Enriquez – Nuestro Parte Da Noche (bzw. A Nossa Parte Da Noite)
Ulrich Peltzer – Das Bist Du
Μαρία Ευθημίου – Ρίζες και Θεμέλια
Angela Lehner – Vater Unser
David Peace– Tokyio Redux
Benjamin Berton– Dreamworld
Cátia Vieira– Lola
Samanta Schweblin– Siete Casas Vacías (bzw. Sete Casas Vazias)
Jhumpa Lahiri – In Other Words
Olaf Arndt – Unter Deutschland
Paulo Moura – Extremo Ocidental
Μιχάλης Μακρόπουλος – Μαύρο Νερό
George Simenon – Betty/Der Mörder/Die Marie Vom Hafen/Das Haus Am Kanal
Πέτρος Μάρκαρης – Ο Φόνος είναι Χρήμα
Rachel Cusk – Second Place
Colston Whitehead – Harlem Shuffle
Robert Louis Stevenson – Travels with a Donkey in the Cévennes