British Ghost Stories 1

June 19th, 2009

Mount Vernon Arts Lab – The Séance At Hobs Lane

‘…the forthcoming end of the world will be hastened by the construction of underground railways burrowing into infernal regions and thereby disturbing the Devil.’
Rev. Dr. John Cumming 1860 (Zitat ‘The Séance at Hobs Lane’ (Ghost Box 09)

Anfang des 19. Jahrhunderts erwarb der Tabakhändler Joseph Williamson ein großes Stück Land im Edge Hill – Bezirk von Liverpool, auf dem er zahlreiche Häuser in zum Teil exzentrischer Anordnung und Form, scheinbar ohne festen Plan errichten ließ. Anschließend hieß er eine Hundertschaft Arbeiter Gärten mit bogenförmigen Terrassen zu bauen. Bis 1840, dem Jahr seines Todes, konzentrierte er sich dann auf die Umsetzung seiner bizzarsten Idee: Unter seinem Grundstück konstruierte er, einem albtraumhaften Labyrinth gleich, eine Vielzahl geheimer Tunnel, großer Hallen und Gänge, wiederum ohne offensichtlichen Zusammenhang. Das ganze System ist grotesk und spottet jeglicher Beschreibung.

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Über die Beweggründe Williamsons wurde später heftig spekuliert und die Mutmaßungen sind ebenso zahlreich. Sollten die Tunnel als Rückzugsort für ihn und seine Freunde konstruiert worden sein, da er vielleicht einer obskuren Sekte angehörte und auf den Tag der Apokalypse wartete; diente er Schmugglerzwecken oder wollte er, in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, einfach seine Arbeiter weiter beschäftigen und ihnen den Gang zur Wohlfahrt ersparen?

Die Situationistische Internationale veröffentlichte 1953 einen Essay von Ivan Chtcheglov, in dem er über die ‘Formel für einen Neuen Urbanismus’ schrieb und eine radikale Annäherung an die Architektur propagierte. Die zeitgenössische Architektur sei phyisch und ideologisch restriktiv, es brauche eine Interaktion mit der Umwelt. Die Ideen blieben aber im Abstrakten hängen.
Psychogeographie wurde dann als Begriff von Guy Debord eingeführt und als ‘Studie über die Gesetze und spezifischen Auswirkung der geographischen Umgebung, bewußt oder unbewußt angeordnet, auf die Emotionen und die Verhaltensweisen der Individuen.’ definiert. Es ging aber auch darum, voraussehbare und gewohnte Pfade zu verlassen und dadurch ein neues Bewußtsein zu erlangen. Als Mittel dazu schlug Debord ‘dérive’ vor. Alles was einen vom normalen Weg  abbringt, verändert den subjektiven Blick auf Stadtlandschaften, ‘dérive’ ist eine spielerische und forschende Strategie, um Städte neu zu entdecken.

Verschiedene Gruppen, – aus Künstler-, Akademie- und revolutionären Kreisen, vor allem in Großbritannien, beschäftigen sich seit den 1980er wieder intensiv mit Psychogeographie und den Situationisten, stellen Querverbindungen von den Urahnen wie Baudelaire, William Blake, Thomas de Quincy über Kunstbewegungen wie DADA und Surrealismus zu anderen Schlüsselfiguren wie Walter Benjamin, J.G. Ballard oder Iain Sinclair her.
Iain Sinclair beispielsweise lieferte mit ‘London Orbital’ ein zentrales Buch der aktuellen Psychogeographie ab, das die luzide Prosa eines Ballard mit dem Sprachton eines Reiseführers verbindet. Sinclair umwanderte den Londoner Autobahnring und stieß immer wieder auf eine bizarre, verdichtete suburbane Landschaft, in der sich Industrie- und Lagerhallen, umgewandelte Institutionen, stacheldrahtumzäunte Regierungsgebäude, verschüttete Dörfer, Shopping Malls, Golfplätze, mittelalterliche Kirchen oder freies Gelände, das als Einsatz von Spekulanten dient, mischt und eine neue, chaotische Struktur bildet. Seine ‘acoustic footprints’ werden vom zeitgemäß- meditativen Rauschen des nicht abreißenden Verkehrs auf dem Autobahnring begleitet.

Drew Mulholland hat derzeit den Status eines ‘Composer in Residence’ im Department of Geographical and Earth Sciences an der University of Glasgow inne. Zu dieser Ehre kam er, laut einem Interview mit Plan B aber über Umwege. Durch die paranoide und pessimistische BBC Sixties-Kultserie ‘Quatermass And The Pit’ inspiriert, die in einer fiktiven Londoner Untergrundstation spielt, in der ein millionenjahrealtes Raumschiff mit toten Aliens entdeckt wird, stellte sich Mulholland vor wie es wohl wäre, wenn man an einem solchen Ort sich zu einer Séance einfinden würde. Die Musik auf ‘The Séance At Hobs Lane’ klingt dann auch einem Vordringen durch ein verschlungenes, mysteriöses Labyrinth unter der Erde gleich, in dem an jeder Biegung oder Abzweigung neue Überraschungen oder Gefahren lauern und in dem sich mysteriöse, geheime Gesellschaften treffen könnten. Außer Mulholland fanden sich zu dieser Séance Isobel Campell, deren einsames Cello sich mit geheimnisvollem elektronischem Nebel mischt, John Cavanagh, Norman Blake (von Teenage Fanclub), Portisheads Adrian Utley, Barry 7 von Add N to (X) und John Balance (Coil) ein. Im Gegensatz zur ‘hidden english reverse’, wie manche den humorlosen Zweig des britischen Post-Industrials zusammenfassen, wimmelt es hier von Anspielungen und ironischen bis phantastischen Querverweisen. ‘The album is all about unterground London. Victorian skullduggery, opium dens, underground shelters built during the war, secret societies…’ heißt es in den Linernotes.
Nach dem Erscheinen des Albums wurde Mulholland, wie er sagt, immer wieder darauf angesprochen, ob er sich mit Pychogeographie befassen würde. Er musste erst mal forschen, der Zusammenhang war ihm dann aber klar. Das Album wurde vom künstlerisch ambitionierten Ghost Box Label wiederveröffentlicht, nachdem es fünf Jahre nicht erhältlich war und Mulholland sich in dieser Zeit auch aus existentielllen Gründen von der Musik abwandte, was ihm den Weg zurück zur Musik erst ermöglichte. Psychogeographie bleibt also Thema, ein Buchprojekt diesbezüglich ist im Entstehen, ein Nachfolger für The Mount Arts Lab und ein Projekt mit dem lange Zeit abgetauchen Paul Simpson / The Wild Swans aus der Liverpooler Post-Punk- Szene gleichfalls.

Julian House gestaltet u.a. die ikonischen, retro-futuristischen Hüllen für die Birminghamer Band Broadcast, zu deren verführerischen Musik, gespeist aus verträumt-verhuschten Fernsehmelodien, elektronischen Klängen, obskuren Samples und einer melancholisch-unterkühlten Stimme, sie perfekt passen.
Mit Jim Jupp gründete er 2004 dann Ghost Box. Ghost Box ist als Metapher für den Fernseher zu verstehen, und nomen est omen. Optik und Musik der nun ein rundes Dutzend umfassenden Veröffentlichungen – hinter The Advisory Circle, The Focus Group, Bellbury Poly, Eric Zann und deren wahnwitzigen, minimalistischen Hörspielen verbergen sich House, Jupp und deren Freundeskreis – The Mount Arts Lab fällt da aus dem Rahmen -. Alle Veröffentllichungen spielen mit den erzieherischen, schulbuchartig aufgemachten Telekollegserien und Radiophonic Workshops der BBC aus den 60ern und 70ern, bei deren musikalischen Gestaltung sich oftmals Genies wie Basil Kirchin, Delia Derbyshire, Ron Geesin u.a. hinter den Kulissen verbargen, die hier ungehindert ihrem Geschmack für seltsame, oftmals auch akademisch inspirierte Klänge ausleben durften und dafür auch noch ordentlich bezahlt wurden. Weitere Vorlieben von Ghost Box wie die Grusel und Geistergeschichten von Lovecraft (Eric Zann ist ein direkter Verweis) und M.R. James und mythenbesetzte Landschaften lassen sich gleichfalls wunderbar in einen überbritischen, hochgebildeten und ironischen Kontext übertragen.

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