Ripples

November 8th, 2024

BRDCST  Festival Bruxelles 2024

Überzeugender als viele größere und bekanntere Festivals gelingt es der Crew des BRDCST-Festivals in Brüssel seit Jahren die jeweils aktuell innovativsten Musiker aus unterschiedlichen Genres des internationalen experimentellen Spektrums für ein verlängertes Wochenende in Belgiens Hauptstadt zu gewinnen. Als Veranstaltungsorte kamen dieses Jahr neben dem gewohnten Ancienne Belgique auch die fußläufig entfernte Kirche Notre Dame Aux Riches und das Cinema Palace gegenüber dem dazu.
Die Pre- (Autechre) und After (Oneothrix Point Never) – Shows hatten es, was Hochkarätigkeit anbelangt, schon in sich; für den Freitagabend und den allgmeinen Auftakt des Festivals zeichnete sich dann aber Tirzah, die man schon einmal auf der Bühne des Festivals erleben durfte, als Kuratorin für ein congeniales Programm mit all den cutting-edge Musikern aus ihrem Umfeld und Freundeskreis verantwortlich – Coby Sey, Lorraine James, Mica Levi, Anja Ngozi und als Nicht-Londoner Meril Wubslin.

Hyperaktivität und eine aus Prinzip künstlerische Uneinsortierbarkeit verbindet die Londoner Musiker neben der langjährigen Freundschaft. Mica Levi kommt ja wie manch einer weiß aus einer Künstlerfamilie. Als Wunderkind spielte sie schon mit vier Jahren Violine und studierte dann später in London an der Guildhall School Of Music And Drama, nur, um dann vor dem Diplom abzubrechen und mit ihrer verqueren Pop/Punk-Band Micachu & The Shapes und einem Plattenvertrag von Rough Trade in der Tasche erst einmal ihre Vorstellung von Sophistication außerhalb den Hochkulturzirkeln zu verfolgen. Die Annäherung an klassisches Komponieren lebte sie dann mit den Soundtrackarbeiten für Arthousefilme und in engen Zusammenarbeiten mit unkonventionellen Regiesseuren wie Jonathan Glazer aus. Zurück auf die große Bühne des Ancienne Belquiques: Solo mit elektrischer Gitarre leitet Mica Levi den Abend von Tirzah auf ihre Art ein. Songs auf das absolut Grundsätzlichste reduziert, weder Folk, noch Rock, aber den Punkspirit insichtragend zeigt sie wieder eine andere unerwartete Facette ihres Könnens.
Coby Sey ist ein weiteres Universaltalent in Sachen zeitgemäßen musikalischen Outputs. Seine kulturellen und biographischen Hintergründe – er wuchs in den sich sehr schnell verändernden Südlondoner Stadtvierteln von Lewisham und Peckham auf – hört man in seiner, sich aus einflussreichen britischen Musikstilen, von Post-Punk, Grime, Spoken Word zu weirder Electronica speisenden komplexen Kompositionen deutlich heraus.

Dass seine eigene Musik sich bislang nur in einem Album – Conduit von 2022 – manifestierte, mag vor allem daran liegen, dass ihn die zahlreichen Produktionstätigkeiten und Filmmusik-Auftragsarbeiten in Trapp hielten. Zudem spielt er auch in der Band von Tirzah.

An diesem Abend konnte man die Beiden sogar als Duo erleben. Tirzah begeisterte das Publikum schon vor zwei Jahren beim BRDCST-Festival mit ihren süchtigmachenden Songs, eine so nicht kopierbare Mischung aus Pop, Post-Grime und R & B,  gesungen mit scheinbarem Understatement. Die Songs auf ihren mittlerweile drei Alben wirken zwar wie dahingehuscht und wie nebenbei zum Beispiel in der Küche oder beim Aufräumen gesungen, sind aber natrülich doch ausgeklügelte Perlen und ein alternatives, persönliches Statement zum Leben in der Metropole. Auf der Bühne steht heute ein Lounge-Sofa, als Dekoration und auch Ort, um von dort aus die Wohnzimmeratmosphäre, die ihre Musik ausstrahlt, zustätzlich zu unterstreichen. Die leichte Windschiefheit der Songs wird durch die noisigen elektronischen Sounds von Coby Sey noch zustätzlich auf eine parallele Ebene gehoben.

Die Ehre, jedes Jahr eines der wegweisenden Alben von Can durch eigene Interpreation in ein neues Licht zu rücken wurde dieses Jahr dem in Brüssel wohnenden Saxophonisten Shoko Igarashi zuteil, der dem luftig-spacigen Meisterwerk Future Days mit seinen Mitmusikern, unter anderem einer Harfistin, im Clubraum des AB auch eine nicht werkgetreue sympathische Note gab.
The Necks machten das, was sie schon seit 35 Jahren in sich immer wieder variierender und doch gleicher Weise tun: mit Piano, Bass und Schlagazeug Minimalismus, Introspektion, Jazz und Klassik das perfekte Zusammenspiel auf eine manchmal fast metaphsyische Ebene zu heben. Attila Csihar konfrontierte Brüssel mit der Interpretation seines Void ov Voices – Projekts, das heißt animalischem Kehlkopfsingen und Texten aus den Verliesen diverser Zwischenwelten. Das allles stilecht hinter einem von Kerzen beleuchtenden Altar stehend, seinem Ruf als Extrem-Matal-Vokalist nicht abhold zu werden. Die Japaner von Goat sind ausgemachte Perfektionisten. Ihre Musik, die gerne als minimal techno ohne elektronische Instrumente beschrieben wird, wird von exakten Perkussionsgewittern getragen, die, ganz japanisch, dem Rituellen nahestehen.

Amaro Freitas aus Recife spielte auf dem Piano einerseits Jazz in der Tradition der großen Meister aus den 1960ern Jahren, aber mit einem warmen, brasilianischen Einschlag und wurde ebenfalls vom Publikum mit warmen Applaus bedacht.

Alabaster DePlume, schwer angesagt und mit einer noch angesagteren Veröffentlichung auf International Anthem, stellte sich mit seinen Saxophon- und Hampelmann-Kapriolen als eher unangenehme Nervensäge heraus, die sich auch nicht zu schade war, das Publikum mit billigen politischen Kommentaren zum Weltgeschehen zu animieren.

Die Schlagzeugerin Valentina Magaletti war mit zwei Bands – den Post-Punker Moin und den ebenfalls zurecht hochgelobten Holy Tongue, die in Fußstapfen von Projekten aus dem Adrian Sherwood-Stall und modernem Dj-ing präsent.

Zwischen all den unterschiedlichen Musikern und Genres, die das Festival auch dieses Jahr wieder zu bieten hatte,
gab es nach dem Tirzah-Programm einen zweiten Schwerpunkt: Free Folk.

Mehr London als es das neunköpfige Shovel Dance Collective verkörpert, geht wohl nicht! Weit weg von jeglichem konservativen und kolonialem Denken oder gar strengen Bewahren der traditionellen Songs, interpretiert das bunte, queere Kollektiv mit alten und teilsweise selbstgebauten Instrumenten unbekanntere Protestsongs, Seefahrtslieder, Mystisches oder Thematisches wie auf ihrem Debutalbum, das sich thematisch um Wasser dreht. Eine Affinität zu Drones und abenteuerliche, freie Abzweigungen der Folktunes lässt das Kämpferherz des Publikums höher schlagen. In der Notre Dame Aux Riches Claires Kirche, wo sich die Musiker vor dem Altar im Halbkreis versammeln wird schnell noch vor Konzertbeginn Jesus verhüllt; keine United Bible Studies also, sondern sozialistisches Gedankengut heißt die heutige Botschaft.

Brighde Chaimbeul verbindet auf unwiderstehlich charmante Weise traditionelle rurale Songs ihrer Heimatinsel Isle Of Skye mit transzendenten Drones. Harmonie und Dissonanz gehen in ihren Songs Hand in Hand und ihr Instrument – der kleine Dudelsack oder eleganter ausgedrückt – Scottish Small Pipe – lässt in ihrer zur Könnerschaft gereiften Technik eine fesselnde Musik entstehen, die in sich wiederholenden Melodiefolgen eine trance-ähnliche Stimmung zwischen Außerweltlichem und Meditativem kreieren vermag, aber auch die rhythmusbetonten, Tänzen entlehnten, derrwischartigen Momente kommen zum Zuge. Auf ihrem aktuellen Album arbeitete sie mit dem kanandischen Saxophonisten und Freigeist Colin Stetson zusammen, was der Musik und vor allem den droneartigen Sequenzen eine zusätzliche faszinierende Schattierung gibt.
Youmna Saba, Musikologin, Out-Spielerin, verlegte vor einiger Zeit ihren Wohnort von Beirut nach Paris. Ihre Musik speist sich aus einem ätherischen Klangteppich, den sie sparsam mit ihrem Hauptinstrument als Grundlage aufbaut, um darauf durch elektronische Verfremdung und Sprache/Gesang eine phasenweise meditative, introspektivische Stimmung zu kreiieren. Ästetisch ist sie als ausgewiesene Klangkünstlerin allerdings beim Touch Laben von Jon Wozencroft sehr gut aufgehoben.

Clarissa Conelly, in Schottland geboren, aber seit langer Zeit in Dänemark wohnend, hat sich in ihren Acapella – oder mit Piano oder Gitarre interpretierten Songs als Künstlerin zur Aufgabe gemacht, “das Leben, den Tod und das Göttliche in meiner Musik zu vereinen.”
Intim, irgendwie vom Himmel gefallen wirkt ihre Musik, die auch Einflüsse aus der traditionellen schottischen und nordeuropäischen Folkmusik integrier, allemal, noch zusätzlich verstärkt in der atmosphärisch aufgeladenden Notre Dame Aux Riches Claires Kirche. Trotzdem wirkt die quirlige Künstlerin alles andere als streng bibeltreu.

Ihre Mischung aus Art Pop, liturgischen und naturreligiösen Einflüssen und der Idee von Extase und Apocalypse in ihren Songs in Einklang zu bringen, rief sogar die coole Warp Records Crew aus Sheffield auf den Plan, die ihr Debutalbum veröffentlichten.

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