Ripples Juni 2011

June 27th, 2011

Pedro Hestnes (1962-2011)

Mit nur 49 Jahren starb der portugiesische Schauspieler Pedro Hestnes am 20.06.2011 in Lissabon. Hestnes war d a s  Gesicht des neuen portugiesischen Kinos seit den 1990er Jahren. Die erste, jugendliche, männliche Identitätsfigur (Inês de Medeiros, Jugendfreundin, die im gleichen Quatier aufwuchs, ist das feminine Pendant), die das lusitanische Kino seit Rui Gomes in Paulo Rochas neorealistischen Klassiker Os Anos Verdes aus den Sechzigern aufzuweisen hatte. Ganz anders als die behäbigen, intellektuellen Gestalten fortgeschrittenen Alters, die in den Filmen De Oliveiras und Monteiros durch die Sujets schleichen, ist Pedro Hestnes intensive Verkörperung des romantischen, stets verschlossenen, fragilen und verletzlichen Heldens, der letztlich immer auch Verlierer ist, von ein anderen, geheimnisvolleren Welt. Sie hat auch weder etwas mit den machohaften Attitüden der Nouvelle Vague – Protagonisten aus den 1960ern noch den nerdigen Typen des Independendkinos der 1990er gemein. Viele Filme, die er mit Regiesseuren wie Pedro Costa, João Botelho, Teresa Villaverde oder João Canijo drehte, spielten auch nicht in urbanen Metropolen und in Bohèmekreisen, sondern in abgeschiedenen, ruralen Landsstrichen. Die meisten der talentierten portugiesischen Filmemacher aus den 1990ern brachten es aus diversen Gründen nicht zu internationalem Ansehen, mit großer Verspätung hat sich einzig Pedro Costa den fragwürdigen (internationalen) Ruf des Geheimtipps unter Cineasten erworben. In seinem Debut O Sangue/Das Blut von 1989, einer geheimnisvollen Familiengeschicht, vom kongenialen Kameramann Martin Schäfer in kontrastreiches monochrom getaucht, wirkt jedes Bild wie ein unterkühltes, unumstößliches Statement. Hestnes brillierte mit Inês de Medeiros in den Hauptrollen. Mit Costa zusammen definierten sie einen neuen Geist im portugiesischen Film, der zwar durchaus Verehrung für die experimentelleren Bereiche der Filmgeschichte zeigen durfte, aber vor allem auch von einem Punkspirit beseelt war. Bevor es Hestnes dann endgültig zum Film zog, studierte er Theater, Architekur und Kunst; er war auch an einigen Theaterproduktionen beteiligt.
Neben O Sangue waren Xavier, Agosto, A Idade Maior, Lobos und Body Rice weitere wichtige Filme des Schauspielers Pedro Hestnes, die man aber außerhalb der portugiesischen Programmkinos höchstens auf Festivals oder im Fernsehen zu sehen bekam. Schon schwer von der Krankheit gezeichnet, arbeitete er bis zuletzt mit der Regisseurin Catarina Ruivo an deren Film Em Segundo Mão /Aus Zweiter Hand.



 

Nancy Elizabeth und James Blackshaw im Maria Matos

Guitarra Portuguesa und Movimento Perpétuo, die ersten beiden Platten des Fado-Gitarristen Carlos Paredes von 1967 und 71 respektive, werden in einer exklusiven Vinyl-Ausgabe im November auf Drag City wiederveröffentlicht: Ben Chasny aka The Six Organs Of Admittance war seit längerer Zeit von dem portugiesischen Maestro so angetan, dass er sich mit den Labelchefs seit 2005 um die internationalen Rechte bemühte. Ein anderer Meister der Gitarre, der Brite James Blackshaw gastierte für ein rares, gemeinsames Projekt mit Nancy Elizabeth in Lissabon; im, ganz im Gegensatz zu den Erwartungen, modernen, zweckmäßigen Maria Matos Teatro. Blackshaw, der den ersten Teil des Konzertes solo bestritt, bevor es zu einigen Stücken im Duett mit Nancy Elizabeth kam und diese dann den zweiten Part übernahm, ist, wie er bekundete, gleichfalls ein Anhänger Paredes. Seine Musik ist insofern nicht so weit von der Paredes entfernt, als dass sie virtuos, aber nicht angeberisch ist. Sie trägt einen ähnlichen Schimmer Melancholie in sich, ohne im Eigentlichen blue-note zu sein. Ansonsten, so kann man im Programmheft lesen, waren für James Blackshaw John Fahey, Derek Bailey, Robbie Basho und auch die Protagonisten der Minimal Music wie Reich, Charlemagne Palestine oder Pärt in seiner Entwicklung von Bedeutung. Als er um die 20 Jahre alt gewesen sei, habe er entdeckt, dass man mit einer 12-saitigen Gitarre alle Vorlieben und Ideen umsetzen könne: Oberton-Musik, Drones, Minimal Music. Die meist um die zehn Minuten sich entfaltenen Stücke des Abends sind streng durchkomponiert, ohne dass ihnen das anzumerken wäre. Mit einer Leichtigkeit offenbart Blackshaw seine Kunst die ganze Palette atmosphärischer Spannungsebenen in ein Stück unterzubringen.
Nancy Elizabeth veröffentlichte zwei Alben auf dem Leaf-Label. Battle and Victory von 2007 ist ein opulent, exotisch instrumentiertes (weird-) Folk-Album; Wrought Iron von 2010 spürt hingegen mit einer reduzierten Anzahl akustischer Instrumente dem inneren des Tons nach und ist – dies eine Parallele zu James Blackshaw – von Steve Reich und Minimal Music beeinflusst. Offensichtlich werden diese Vorlieben allerdings weniger bei der Instrumentierung als beim Gesang, der Techniken der Choralmusik zitiert und oft repetiven Charakter hat.
Nancy Elizabeth wird oft im Zusammenhang  mit Joanna Newsom erwähnt (die Harfe auf der ersten Platte, unorthodoxer Gesangsstil); auf der Bühne des Teatro Maria Matos konnte man allerdings noch eine ganz andere Seite Elizabeths kennenlernen. Die aus Lancashire stammende und in Manchester lebende Musikerin improvisierte an der Gitarre oder am Flügel und sang dazu. Die Setlist ständig umwerfend und die Techniker etwas in Stress versetzend, spielte sie Altes und Neues in ultra-reduzierter Form. Staubtrockener Humor, ein schrilles, ordentliches Maß Exzentrik und professionelle Zerstreutheit, diese Klischees erwartet man von einer Britin, trotzdem ist das, angesichts der beinahe weltumspannenden Gleichförmigkeit des Künstlertyps, immer noch erfrischend. Kammer/Hausmusik, Kunstlied, Anleihen an überlieferte Volkslieder und die avantgardistische Interpretation und die Vermischung von allem passen bei Nancy Elizabeth perfekt zusammen.

 

Ripples Mai 2011

May 23rd, 2011

Atem 1975 – 1979

Schwer vom Kraut- und Progressiverock, später auch von den experimentellen Absplitterungen des Punk, infiziert, gaben Pascal Bussy und Gérard Nguyen zwischen 1975 und 1979 mit ATEM ein Fanzine/Magazine heraus, das es zuvor in dieser Art thematisch und konzeptionell  noch nicht gegeben hatte: Ausführlich und komplex, subjektiv aus einer Fanperspektive, aber andererseits auch reflektierend geschrieben, ging es in den 17 erschienenen Nummern ausschließlich um die Außenseiter der Musikgeschichte. Die ATEM-Schreiber operierten auch als Labelbetreiber. Später entstanden aus diesem Umfeld  Avantgarde- Labels wie Tago Mago und Les Disques Du Soleil. Alles schon lange Geschichte! Drei Jahrzehnte sind inzwischen vergangen: Gérard Nguyen stellte nun eine Auswahl der wichtigsten Artikel und Interviews von ATEM für ein Buch zusammen. Die Beiträge über u.a. Can, Henry Cow, Peter Hammill, Nico, Suicide, Throbbing Gristle, Magma, Steve Reich, The Residents machen wieder einmal bewußt wie stilprägend und einflussreich diese Protagonisten der experimentellen Rockmusik auch hinsichtlich aktueller Musiktendenzen waren und sind.
Atem 1975 – 1979, Une Sélection d’articles et d’interviews, Camionblanc.com

Domino 15 : Ein Abend mit Wu Lyf, The Beautiful Band und Spookhuisje

Welch Talente, Geheimtipps und Hochkaräter der experimentellen Gegenkultur bei den vierzehn vorherigen Ausgaben des Brüsseler Domino-Festivals schon auftraten, listet das Programmheft des in diesem Jahr nun zum letzten Mal stattfindenden Ereignisses nochmals auf. Für meine späte Premiere habe ich mir dummerweise den Abend mit Spookhuisje, The Beautiful Band und Wu Lyf ausgesucht, alle noch ohne offizielle Veröffentlichung, aber als sagenumwobende Verheißungen gehandelt. Während man sich tagsüber in den Straßen von BX mit der Fünften Zombie Day Parade schon mal in Gruselstimmung bringen konnte, packte einen der wahre Horror allerdings erst am späteren Abend im legendären AB (Ancienne Belgique). Spookhuisje, Brüsseler Hoody – Nerd, gab den psychedelisiert-geheimnisvollen Gitarrenmaestro, mehr konventionell und grundsolide als ‘haunted’. The Beautiful Band – mit Ignatz, Paul Labreque von Sunburned, Él-G, Patrick Calvelo von Monokiri und Laurent Cartuyvels vom R.O.T. – Ensemble theoretisch nicht zu unrecht als Supergroup des Abseitigen angekündigt – schafften es dann mühelos mit einem The Cream-Revivalband-Verschnitt die Stimmung ins Reaktionäre zu transportieren; ihre Musik völlig ungebrochen und ohne Bezug zu irgendeiner zeitgenössischen Tendenz der letzten dreißig Jahre. War der Auftritt der Beautiful Band nur redundant, präsentierten sich die Headliner Wu Lyf ungebremst als unsympathische Ekelpakete. So mysteriös die bislang raren Infos (Wu Lyf steht für World Unite – Lucifer Youth Foundation), so überschwänglich die Reviews der Presse – eine Mischung aus Krautrock, Gospel, Rap Noir, Spiritualized und The Swans – so unfassbar bieder und althergebracht dann letzlich der Auftritt.  Ein komplett uninteressanter Verschnitt aus Afropop und öligen, überkanditelten Theatralik- Balladen wurde künstlich hochgejazzt (der Sänger und Keyboarder, ein Bryan Adams des Underground, strippte  sich aus schierer Emotionalität schon nach dem ersten Stück den Oberkörper frei). Und, handelt es bei Manchester tatsächlich um eine englische Stadt? Wu Lyf untermauerten die Behauptung, dort habe man noch nie etwas von Selbstironie oder Humor gehört wieder aufs Nachthaltigste. Dies, immerhin, ist ihnen gelungen.

Glasser : True Panther Sounds

Die Band präsentierte sich in ihren Raumfahreroveralls wie die späten Nachkommen von Devo, Sängerin und Komponistin Cameron Mesirow AKA Glasser gab sich in Straßburg kontrastiernd als alternative, post-hippieeske Queen of Siam, die zwischen der Besatzung tänzelnd auf einem imaginären Seil durch den Raum balancierte. Die vertrackt-exotischen Perkussions und die warmen Keyboardmelodien sind das perfekte Backgroundarrangement für Mesirows Gesang, der live gleichermaßen wie auf Rings, dem Album, fasziniert. Glasser und die kalifornischen Kolleginnen von Warpaint und Zola Jesus stehen für eine Form von Goth Light, der mehr einen leichten Eso- als Punkeinschlag hat. Sympathisch, aber phasenweise dann doch zu sehr Kaffeehausmusik.

Jimmy Campbell and When The Skies Are Grey

Jimmy Campbell, talentierter Mersey-Beat-Protagonist, scheiterte mit seiner Karriere wie schon so viele andere Liverpudlians an den eigenen Dämonen. Die Kombination – mangelndes Selbstbewusstsein und extremes Lampenfieber mit Alkohol zu lindern, eine Weigerung Kompromisse einzugehen und eine ausgeprägte Heimatverbundenheit, die jeden Schritt außerhab der Stadtgrenzen zur Qual werden lassen, hatten zur Folge, dass nur drei Jimmy Campbell-Alben mit mäßig kommerziellem Erfolg erschienen. (Campbell starb 2007). Als Geheimtipp des psychedelischen Folks wurden Stücke von ihm allerdings immer wieder gecovert. Einen seiner seltenen Auftritte, der an der Essex University 1977 von einem Fan im kleinsten Rahmen organisiert und aufgezeichnet wurde, erschien nun auf dem Liverpooler Viper – Label: Jimmy Campbell – Live 1977 (nur als Download). Mit einem Repertoire aus unveröffentlichten Stücken und einem Querschnitt aus den Alben kann man ihn hier, solo mit Gitarre, ungekünstelt in Bestform hören.
Den Hinweis auf Campbell konnte man übrigens in When Skies Are Grey, einem Fußballfanzine lesen! In den 1990ern erschienen in Großbritannien – und manchmal auch anderswo – zahlreiche Fanzines rund um den Fußball, die auch über Musik und Popkultur schrieben. Diese Szene ist praktisch nicht mehr vorhanden; meist erscheint nur noch eine Webversion oder eine Abkupferung des offiziellen Stadionmagazin (dasselbe geschah  im Musikbereich in den 1980ern, als ein Großteil der Fanzines versuchte Spex oder den NME zu kopieren). Ein Newcastle United – Fanzine berichtet gar direkt von der Front aus Afghanistan, wo sich ein Schreiber/Soldat aufhält. WSAG, ein Everton-Fanzine, dass mittlerweile 161  Ausgaben auf dem Buckel hat, ist da im Vergleich old school, teilweise politisch, ironisch und neben dem Ball auch nach wie vor an Musik interessiert (nebenbei muss gesagt werden, dass es sich beim EFC, einer im Vergleich zu den anderen Premier League-Klubs armen Kirchenmaus, wo  noch auf aus der eigenen Jugendabteilung entsprungene Liverpooler Talente gebaut und einem altehrwürdigen old-fashion Stadion spielen gespielt wird, objektiv um einen sympathischen Klub handelt). WSAG pflegt immer noch einen gewissen Punk-Spirit, was natürlich auch am Alter der Herausgeber liegen mag. So heißt es zum Tod von Poly Styrene beispielsweise:  “So Poly, Arianna, Trish all dead, Annie – my music’s shit so I’ll espouse every cause going just to keep my stupid Chris Martin/Valerie Singleton grid on the front of the Guardian Magazine every other fucking week – Lennox alive.”

Highlights of 2010

December 27th, 2010

Mikrowellen is celebrating its second year in the interweb! We use this occasion to present our Highlights of 2010, in no particular order, cutting across all media and events.

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music

  • JG Thirlwell: Manorexia – The Mesopelagic Waters
  • Richard Skelton: Landings
  • Flying Lotus: Cosmogramma
  • These New Puritans: Hidden
  • Phew: 5 Finger Discount
  • Sei Miguel: Esfíngico
  • Lula Pena: Troubadour
  • Ela Orleans: Lost
  • Konrad Becker: Grand Piano Classics
  • Sachiko: Kunado
  • The Magic Theatre: London Town
  • Dolly Mixture: Everything and More (Re-Issue)
  • Zeitkratzer: James Tenney
  • Zeitkratzer – John Cage
  • Marc Almond: Varieté
  • The Drums: The Drums
  • Broadcast & The Focus Group: Ghost Box Study Series
  • Reines d’Angleterre: Les Comores
  • The Minimal Wave Tapes: Volume One

film/tv

  • Shutter Island, Martin Scorcese
  • A Serious Man, Ethan & Joel Coen
  • Catfish, Joost/Schuleman
  • Lourdes, Jessica Hausner
  • Four Lions, Christopher Morris
  • Metropolis Reconstructed, Fritz Lang
  • Sleep Dealer, Alex Rivera
  • Mad Men, Series 4, Matthew Weiner
  • Rubicon, Series 1, Jason Horwitch
  • True Blood, Series 4, Alan Ball
  • Louie, Series 1, Louis CK

books

  • Rivka Galchen: Atmosphärische Störungen
  • João Tordo: O Bom Inverno
  • Nick Dyer-Witheford & Greig de Peuter: Games of Empire
  • Benjamin Moser: Why This World, A Biography of Clarice Lispector
  • Hannah Arendt & Gershom Sholem: Der Briefwechsel
  • Valter Hugo Mãe: A Máquina de Fazer Espanhóis

concerts

  • Maja Ratke @ Méteo, Mulhouse
  • Wolf Eyes @ Kilbi, Bad Bonn
  • Michael Rother @ Kilbi, Bad Bonn
  • Charlotte Gainsbourg @ Cirque Royal, Bruxelles

misc.

  • Wikileaks
  • Google’s Nexus One with Android
  • Apple’s Macbook Air

disappointments

  • Craig Venter, Entrepreneur with a God-complex
  • Ray Kurzweil, ‘Transhumanist’
  • Lost, Series 6 (last Series), Abrams/Lieber/Lindelof
  • Jaron Lanier: You are not a Gdget
  • iPad, Apple’s Tablet-PC
  • Diaspora, self-designated Facebook alternative
  • Swineflu

R.I.P.

  • Dennis Hopper, Actor and Icon
  • Malcom McLaren, Artist
  • Captain Beefheart, Musician and Painter
  • Martin Büsser, Writer, Ed. Testcard, Ventil Verlag
  • Christoph Schlingensief, Theatre-Maker
  • Claude Chabrol, Filmmaker
  • Alex Chilton, Musician
  • Ari Up, Original Punk, Singer of The Slits
  • Prince Chunk, fat cat
  • Henryk Mikolaj Górecki, Composer
  • Sigmar Polke, Painter
  • Peter “Sleazy” Christopherson, Founding Member of Throbbing Gristle

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Ripples November 2010

October 30th, 2010

James Nice – Shadowplayers
Nach all den Büchern  über das – mit Rough Trade – einflussreichste Post-Punk-Label, Factory Records, erscheint nun mit Shadowplayers auch ein gutes. James Nice, für Factory Benelux jahrelang in Brüssel tätig, seines Zeichens auch Labelinhaber von LTM (aka Les Temps Modernes), schreibt mit reichlich Insiderwissen ausgestattet detailliert und kompetent, wie man das von den Linernotes seiner Veröffentlichungen gewohnt ist. Die Geschichte, die in Manchester als anarchistischer Insiderwitz begann, wird heute selbst nach dem Tod Tony Wilsons durch zahllose Inspirierte ideell weitergeführt. Shadowplayers ist, glücklicherweise, kein Buch über Joy Division und The Happy Mondays geworden, sondern räumt den kommerziell in der zweiten Reihe gebliebenen, aber gleichermaßen stilprägenden Künstlern wie z.B. Durutti Column, Linder oder Clock DVA den gleichen, ihnen gebührenden, Raum ein. (Shadowplayers – The Rise And Fall Of Factory Records, Aurum Press)

Harry Kümel – Daughters Of Darkness
In Antwerp, einem Roman des nordenglischen Schriftstellers Nicholas Royle, treibt ein psychopathischer Mörder sein Unwesen, der von den Bildern des belgischen Surrealisten Paul Delvaux und des Kultregisseurs Harry Kümel gleichermaßen “inspiriert” zu sein scheint. Alle verbindet ein Hang zum Bizarren. Längere Zeit nicht mehr erhältlich, ist der neben Malpertuis (mit Orson Welles in der Hauptrolle), 1973, berühmt-berüchtigste Film Kümels, Daughters Of Darkness (mit Delphine Seyrig und Andrea Rau), 1971, nun auf DVD erschienen. Im winterlich-morbiden Seebad Ostende wird eine düstere Vampirgeschichte in Szene gesetzt: die Bilder und die Stimmung wirken einerseits wie eine Mischung aus Letztes Jahr in Marienbad und Don’t Look Now, andererseits springt Kümel unorthodox von Genre zu Genre, vom klassischen Horror- über Psychothriller bis zum (Sexploitation-)Trashfilm. (Harry Kümel Interview)

Vias De Facto
Wenig ist vom früheren Bildungsauftrag bezüglich Kultur der staatlichen Radiosender übrig geblieben, von Nischen abseits der akademischen Linie ganz zu schweigen. Mitternächtlichen Wellensurfern auf der Suche nach dem Besonderen sei daher Paulo Somsens sonntägliche Sendung Vias De Facto auf der portugiesischen Antenna 2 empfohlen ( die, Internet sei Dank, auch zu einem anderen Zeitpunkt nachgehört werden kann). Somsen war Gründer und Inhaber des nicht nur für die lusitanische Avantgarde immens einflussreiche AnAnAnA – Labels und Ladens; ähnlich eklektisch gestaltet er seine Sendungen.
Vias De Facto

Tigrala – Dito
Eigentlich scheint sich das Lissaboner Label Mbari Introspektion groß auf die Fahnen geschrieben zu haben; Lula Penas’ zweite Platte, die musikalische Landschaften malenden Gitarristen Ricardo Rocha, Tó Tripo und Norberto Lobo, der Pianist Ruben Alves oder der die Tradition des früh verstorbenen und kontroversen Kultbarden António Variações weiterführenden B. Fachada; alle eint der nach innen gerichtete Blick in ihrer Musik. Die sieben Stücke von Tigrala, einem Trioprojekt von Ian Carlo Mendoza, Guilherme Canhão und Norberto Lobo, überschlagen sich dagegen beinahe an überschwänglicher Spielfreude: Akustikgitarren, diverse Perkussions- und Blasinstrumente, zu gleichen Teilen aus leicht verschrobenen Jazz,- Folk- und Minimal Music Einflüssen schöpfend; das ist eine klassische Armchair-Traveller Platte, auf – unüberhörbar – portugiesischem Boden entstanden. Viva o tigre! (Mbari Música)

Sei Miguel – Esfíngio
Ob das Prädikat “best gehütetetes Geheimnis” sich letztlich karrierefördernd auswirkt, lässt sich nicht so ohne weiteres beurteilen. Allerdings ist dem seit zweieinhalb Jahrzehnten zwischen allen Stühlen des etablierten und alternativen Establishment sich bewegenden Freigeist Sei Miguel die Ehre zuteil geworden, sein neues Album auf dem Jazzlabel Clean Feed veröffentlichen zu können. Geboren in Paris, aufgewachsen in Brasilien, dann wieder in der franzsösischen Hauptstadt in den 70ern musikalisch sozialisiert, bevor er in den 80er nach Portugal zog; das sind die geographischen und kulturellen Einflüsse und Prägungen, die sich zweifelsohne in seiner Musik wiederspiegeln. In Lissabon spielte er zuerst in der expressionistischen Experimental-Band  O Moeda Noise, bevor sich unter eigener Regie sein charakteristischer Stil weiter verfeinerte, der nicht zuletzt durch die Taschentrompete als “sein” Instrument bestimmt wird. Die vier Stücke des aktuellen Albums entstanden mit dem vertrauten Stamm an Mitmusikern – Fala Mariam (Trombone), Rafael Toral (Modulated Resonance Feedback Circuit), Pedro Lourenço (Bass), César Burago (Percussion). Eingebettet in diese aktuellen Kompositionen sind Fragmente des Jazz, aber in gleichem Maße von elektronischer, Konkreter oder Neuer Musik. Stilmittel der Stille und Auslassung sind in Miguels’ Musik ebenso wichtig wie die gezielte Akzentuierung. Esfíngio ist ein rares Zeugnis einer sinnlichen Kopfmusik. (Clean Feed)

Ripples Oktober 2010

October 1st, 2010

Dolly Mixture -Everything And More

Margaret Thatcher war in den 1980ern in Großbritannien indirekt um die Förderung der Subkultur besorgt. Anstatt einem nicht mehr vorhandenen Fabrikjob nachzujagen, bot sie dem Menschen on the dole die Möglichkeit eines staatlichen Förderungskredits, um damit eine eigene Firma zu gründen, was als Nebenerscheinung zur Folge hatte, dass zahlreiche Musiker ihr eigenes Independent-Label gründeten. Cordelia Records war ein Paradebeispiel. Deren Katalog hatte neben den eigenen Bands für einige Zeit allerhand Obskures zu bieten. Das Fireside – Minialbum von Dolly Mixture, 1986 erschienen, eine leicht melancholische Mischung von Kammer- und Hausmusik, vorgetragen von drei sympathischen, sehr englisch aussehenden jungen Frauen, ist diesbezüglich noch in bester Erinnerung. Aber diese handvoll Songs sollten schon den Schlußpunkt der ‘Karriere’ dieser weitgehend undokumentiert gebliebenen Band bilden.

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