Ripples November 2011
November 25th, 2011
Saint Ghetto 2011
Jeweils drei Tage im November wird die Berner Dampfzentrale einmal nicht von Tanztheatern, Performances und Discoveranstaltungen, sondern von anders veranlagten, gerne auch Gestalten der schrägeren Art, heimgesucht. Saint Ghetto heißt das Festival, dessen Programm dieses Jahr zum vierten Mal von Christian Pauli und Roger Ziegler hochkarätig zusammengestellt wurde. Nur Marc Almond gesellte sich dieses Mal zur Ahnengalerie der wegweisenden und genreerfindenden Künstler aus einer anderen Zeit, die man in den vergangenen Jahren erleben durfte, u.a. Brigitte Fontaine, Hermine, The Residents, The Fall, Nurse With Wound, Little Annie, Chédalia Tazartès. Ansonsten hieß das Konzept: Gegenwartsmusik (wenn das auch, angesichts des plunderphonigen Zitierens beinahe aller Künstler oft theoretischer Ansatz bleiben musste).
Ripples Oktober 2011
October 22nd, 2011
Factory Star – Enter Castle Perilous
Factory Star ist die seit 2008 existierende, neue Band von Martin Bramah. The Fall-Gründungsmitglied – natürlich – mit The Blue Orchids führte er 1982 wochenlang die Independent-Charts an, mit einer Musik, die heute zu rauh und unfertig klänge, um überhaupt gehört zu werden. Oder? Das ist also völlig überraschend und unerwartet der Anknüpfungspunk für Enter Castle Perilous. Das Album wurde unter Live-Bedingungen im Studio eingespielt. Die Stimmung ist eine trübe, die Befindlichkeit eine misserable, von der Laune gar nicht zu reden. Dabei lesen sich Titel wie The Fall Of Great Britain, Arise Europa! oder When Sleep Won’t Come natürlich zeitgemäßer als vielleicht ursprünglich gedacht. Bramah brummelt sich in bester Manchester-Manier durch die Stücke, Gitarre, Bass und Drums trashen knorztrocken und präzise, die Keyboardlinien von Hop Man Jr. und die Backing-Vocals von Ann Matthews (von der unterbewerteten walisischen Band Ectogram) setzen die melodischen Kontrapunkte. Die Musik also altmodisch, aber nicht aus der Zeit gefallen: Black Comic Book, erwähntem When Sleep Won’t Come und New Chemical Light sind drei der stärksten Bramah-Kompositionen, die sich mit Work, A Year With No Head und Agents Of Change messen können.
Magazine – No Thyself
Mit Howard Devoto, inzwischen 59 Jahre alt, legt ein weiterer wegweisender New Wave – Grantler seinen Postkarrieren – Job ( Fotoagentur) auf Eis und meldet sich wieder zu Wort, die Zeiten scheinen auch ihn zu inspirieren. Devotos Texte waren bei all seinen Projekten immer mindestens nah am Genialen, musikalisch überzeugten nach Real Life aber vor allem sein Solo-Album Jerky Versions Of The Dream, das gemeinsame Projekt mit Pete Schelley Buzzkunst und die beiden Luxuria – Platten, alles freilich kommerzielle Flops. Das Wiederaufleben von Magazine ist daher umso erstaunlicher. Der für den Sound enorm wichtig gewesene Gitarrist John McGeoch ist verstorben – dessen Position übernahm der Luxuria-Partner Noko – , Barry Adamson hat Anderes zu tun, ansonsten hört man auf No Thyself die Besetzung vom Jahr der Auflösung 1981. Magazine 2011 klingen dann auch (erschreckend?) authentisch und werkstreu: Unterkühlter Wave-Funk-Bass, flirrende Keyboards, Goth-Gitarre wie auf dem Debut, der absurd-überkanditelte Kunstgesang Devotos wurde allerdings selten ätzender und treffender in Szene gesetzt.
Ripples September 2011
September 9th, 2011
The Wild Swans – The Coldest Winter For A Hundred Years
Liverpool, jahrzehntelang traumatisiertes Epizentrum des weitgreifenden industriellen Niedergangs Großbritanniens, mit einer größeren Völkerabwanderung als jede andere Stadt, übt sich seit einiger Zeit in der gigantisch angelegten Stadterneuerung: Shopping Malls anstelle von zugenagelten Innenstadthäusern, Luxusapartments in den lange dahinsiechenden Docks, Museen und Spektakel als Begleitung zu den 800-Jahre– und Kulturhauptstadt 2008 – Feiern, Phönix rückt den Liverbirds aufs Gefieder. Der “Regeneration” fallen aber auch eine halbe Million, zum Teil noch bestens erhaltener Wohnhäuser, die jahrelang leerstanden und zu Spekulationsobjekten wurden, architektonisch stilprägende Kaufhäuser und kulturelle Einrichtungen zum Opfer. Nach Ladenschluss torkeln die Besoffenen und die Obdachlosen nun durch das neue Glitzerparadies und lassen sich dabei vom freundlichen Summen der sich auto-justierenden CCTV-Kameras begleiten.
Paul Simpson beklagt die zunehmend velorengehende kulturelle Identität, die sich seit den 1960ern über ein kreatives Außenseitertum definierte, die Stadt prägte und einzigartig dastehen ließ. Diesmal die Demütigungen unfähiger Produzenten vermeidend, ist The Coldest Winter For A Hundred Years nun das stark autobiographisch beinflusste Wild Swans-Album geworden, wie es gedacht und lange angekündigt war. Während der andere große Chronist Liverpools seit den 1980ern Michael Head aus einer stark introspektivistischen Sichtweise abstrakter textet, schreibt Paul Simpson neben persönlichen Stücken über Jugend, familiäre Lebensläufe und Freundschaften auch über die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen (zum Guten? Zum Schlechten?): die 80er-Jahre Punkzeit, die Riots, architektonische Verwahrlosung; Texte, die teilweise auch für einen Gedichtband bzw. einer Biographie konzipiert waren. Desperation (‘My town used to fill my head with wonder, yeah / now it fills me with disgust/…And a grimmer time I can’t recall / Like ancient Rome we start to fall/ Like Ringo, John and George and Paul / It’s breathed its last / it’s dead / it’s over now ) und anarchischer Widerstand ( ‘ Once, all this was silver birch / Scots pine and English yew / Hawthorn where Aldi stands / Come now, we can plant anew / And crack wide Tesco’s aisles / With acorns from the ground / Quintillions of sacred atoms cluster and collide’ ) halten sich die Waage und die Musik bewegt sich ebenso zwischen diesen emotionalen Polen, zwischen klassischen Mersey-Beat-Hymnen für die Jetztzeit und zeitlosem Folk, zwischem ironischem Pathos und coolen Understatement.
Ripples August 2011
August 16th, 2011
Elysian Fields – Last Night On Earth
Jennifer Charles und Oren Bloedow geben seit einigen Jahren- weitgehend unbeachtet- das neben den Geschwistern Friedberger most-sophisticated gemischgeschlechtliche Duo. Mit der rhythmisch-modernen Adaption klassischer sephardischer Musik La Mar Enfortuna sind die New Yorker freilich auch einem breiteren, konservativeren Publikum geläufig (auch wenn der Boss von Tzadiks’ Radical Jewish Culture – Serie sich und seine Künstler wohl ‘file under avantgarde’ einordnen würde). Die bluetone-ige, versponnene Musik, die jedes erdenkliche Genre zitiert ohne jemals die Grundstimmung aufzugeben und die lyrisch-skurrilen Texte, vorgetragen von einer modsüchtigen Charles’ wiederum, die das Projekt Elysian Fields auszeichnen, genießen vor allem in Frankreich wertschätzenden Status. Last Night On Earth heißt das neuste Opus, wie schon der Vorläufer After Life’ vielleicht weniger apokalyptisch als zukunftsversprechend gemeint, denn sind die Elysian Fields doch der Ort, zudem Helden und Künstler nach dem Tod gesandt werden. Elysianmusic
Half Asleep – Subtitles For The Silent Versions
Dunkel, versponnen, surreal ist die Stimmung auf Subtitles For The Silent Versions, dem nach einer sechsjährigen Pause, neusten und erstaunlichen Album Valérie Leclercqs. Die früher noch zu erahnenden Inspirationen durch amerikanische Slow Core-Giganten wie Low oder Jessamine sind passé, Choral- und Spektralmusik in all seinen Schattierungen ist angesagt. Leclercq spielte in den letzten Jahren u.a. mit Matt Elliott zusammen, der musikalisch ähnlich gelagerte Affinitäten auf seinem Songzyklus umsetzte. Doch ist die Musik von Half Asleep weit strenger und reduktionistischer angelegt. Akustische Gitarre und Piano bilden bei den meisten Stücken neben dezenten Ergänzungen mittels Trombone, Trompete, Flöte, Streicher und auch Haushaltsgeräten das Grundgerüst für subitile, aber komplexe und dramatische Kompostionen. Die Welt von Subtitles For The Silent Versions ist frostig, brüchig und die aufkommenden Assoziationen von einer dem Irrdischen beinahe schon entrückten Endzeitstimmung ähnlich der, der ähnlich aus der Zeit fallenden, Popol Vuh ist meisterlich inzeniert. Die Lyrics, Leclerqs’ eigene wie auch die Zeilen aus Gedichten Emily Dickinsons’, die ja bekantlich eine Biographie ‘stranger than life’ lebte, sind von gleicher Dichte.
Ripples Juli 2011
July 24th, 2011
Dirty Beaches im Zé Dos Bois, 21.7.2011
Dem Kanadier mit taiwanesischen Wurzeln Alex Zhang Hungtai eine Affinität zum Reduktionistischen zu attestieren, ist grobes Understatement. Beim Auftritt im weit über Lissabons-, gar Portugals Grenzen hinaus hochgeschätzten Zé dos Bois benötigt er auf der kleinen Bühne nicht einmal einen Mikrophonständer.
Das ZDB ist eine sonstwo eher schwer vorstellbare Kreuzung aus Galerie, Musikclub, Cafe, Kneipe und Kino – auf der Terrasse im obersten Stock wird gerade ein Dokumentarfilm über Black Power/James Brown projeziert:… auf die Wand des gegenüberliegenden Hauses im engen Bairro Alto-Quatier. Dort gibt es dann auch um drei Uhr früh kaum ein Durchkommen, Stehparty vor den Kneipen und immer noch offenen Läden ist angesagt.
Dirty Beaches: Loops und Drums vom Band, Gitarre und Gesang: Alex Zhang Hungtai sieht aus wie einer der coolen, unterernährten Kleinkrimnellen aus Oshimas Sechziger-Filmen oder wie ein Elvis-Imitator, was ungefähr das Gleiche sein dürfte. Und der Sound? Als Einmann-Band unterlegt er trockenen Rockabilly, Elektro-Noise und die Kunst des Croonens mit einem perfiden Hauch von dunkler lynschischer Uneindeutlichkeit. Das Cover von Badlands, dem aktuellen Album, zitiert die sinistere Seite Amerikas: auf der Frontseite ist Alex Zhang Hungtai im undeutlichen Seitenprofil hinter einer Rauchwolke abgebildet (jawohl, Nikotin oder noch schlimmere Höllenschwaden), auf der Rückseite ein brennendes Autowrack.
Die diversen Singles und auch Badlands sind, wie überhaupt das ganze Auftreten Hungtais, scheinbar eine Hommage an seinen Vater, der in seiner Jugend ein für taiwanesische Verhältnisse wildes Leben führte, Motorrad fuhr und in Bands sang. Das ‘secret life’ seines Vaters entdeckte Alex erst als er selbst schon erwachsen war. In die Musik von Dirty Beaches fließen nicht nur die Einflüsse der üblichen Verdächtigen ein, Zhang ist auch ein großer Anhänger der Filme Jules Dassins, des Gesangsstils des No Wavisten Arto Lindsay und des Gitarristen Roland S. Howard.