Ripples November 2010

October 30th, 2010

James Nice – Shadowplayers
Nach all den Büchern  über das – mit Rough Trade – einflussreichste Post-Punk-Label, Factory Records, erscheint nun mit Shadowplayers auch ein gutes. James Nice, für Factory Benelux jahrelang in Brüssel tätig, seines Zeichens auch Labelinhaber von LTM (aka Les Temps Modernes), schreibt mit reichlich Insiderwissen ausgestattet detailliert und kompetent, wie man das von den Linernotes seiner Veröffentlichungen gewohnt ist. Die Geschichte, die in Manchester als anarchistischer Insiderwitz begann, wird heute selbst nach dem Tod Tony Wilsons durch zahllose Inspirierte ideell weitergeführt. Shadowplayers ist, glücklicherweise, kein Buch über Joy Division und The Happy Mondays geworden, sondern räumt den kommerziell in der zweiten Reihe gebliebenen, aber gleichermaßen stilprägenden Künstlern wie z.B. Durutti Column, Linder oder Clock DVA den gleichen, ihnen gebührenden, Raum ein. (Shadowplayers – The Rise And Fall Of Factory Records, Aurum Press)

Harry Kümel – Daughters Of Darkness
In Antwerp, einem Roman des nordenglischen Schriftstellers Nicholas Royle, treibt ein psychopathischer Mörder sein Unwesen, der von den Bildern des belgischen Surrealisten Paul Delvaux und des Kultregisseurs Harry Kümel gleichermaßen “inspiriert” zu sein scheint. Alle verbindet ein Hang zum Bizarren. Längere Zeit nicht mehr erhältlich, ist der neben Malpertuis (mit Orson Welles in der Hauptrolle), 1973, berühmt-berüchtigste Film Kümels, Daughters Of Darkness (mit Delphine Seyrig und Andrea Rau), 1971, nun auf DVD erschienen. Im winterlich-morbiden Seebad Ostende wird eine düstere Vampirgeschichte in Szene gesetzt: die Bilder und die Stimmung wirken einerseits wie eine Mischung aus Letztes Jahr in Marienbad und Don’t Look Now, andererseits springt Kümel unorthodox von Genre zu Genre, vom klassischen Horror- über Psychothriller bis zum (Sexploitation-)Trashfilm. (Harry Kümel Interview)

Vias De Facto
Wenig ist vom früheren Bildungsauftrag bezüglich Kultur der staatlichen Radiosender übrig geblieben, von Nischen abseits der akademischen Linie ganz zu schweigen. Mitternächtlichen Wellensurfern auf der Suche nach dem Besonderen sei daher Paulo Somsens sonntägliche Sendung Vias De Facto auf der portugiesischen Antenna 2 empfohlen ( die, Internet sei Dank, auch zu einem anderen Zeitpunkt nachgehört werden kann). Somsen war Gründer und Inhaber des nicht nur für die lusitanische Avantgarde immens einflussreiche AnAnAnA – Labels und Ladens; ähnlich eklektisch gestaltet er seine Sendungen.
Vias De Facto

Tigrala – Dito
Eigentlich scheint sich das Lissaboner Label Mbari Introspektion groß auf die Fahnen geschrieben zu haben; Lula Penas’ zweite Platte, die musikalische Landschaften malenden Gitarristen Ricardo Rocha, Tó Tripo und Norberto Lobo, der Pianist Ruben Alves oder der die Tradition des früh verstorbenen und kontroversen Kultbarden António Variações weiterführenden B. Fachada; alle eint der nach innen gerichtete Blick in ihrer Musik. Die sieben Stücke von Tigrala, einem Trioprojekt von Ian Carlo Mendoza, Guilherme Canhão und Norberto Lobo, überschlagen sich dagegen beinahe an überschwänglicher Spielfreude: Akustikgitarren, diverse Perkussions- und Blasinstrumente, zu gleichen Teilen aus leicht verschrobenen Jazz,- Folk- und Minimal Music Einflüssen schöpfend; das ist eine klassische Armchair-Traveller Platte, auf – unüberhörbar – portugiesischem Boden entstanden. Viva o tigre! (Mbari Música)

Sei Miguel – Esfíngio
Ob das Prädikat “best gehütetetes Geheimnis” sich letztlich karrierefördernd auswirkt, lässt sich nicht so ohne weiteres beurteilen. Allerdings ist dem seit zweieinhalb Jahrzehnten zwischen allen Stühlen des etablierten und alternativen Establishment sich bewegenden Freigeist Sei Miguel die Ehre zuteil geworden, sein neues Album auf dem Jazzlabel Clean Feed veröffentlichen zu können. Geboren in Paris, aufgewachsen in Brasilien, dann wieder in der franzsösischen Hauptstadt in den 70ern musikalisch sozialisiert, bevor er in den 80er nach Portugal zog; das sind die geographischen und kulturellen Einflüsse und Prägungen, die sich zweifelsohne in seiner Musik wiederspiegeln. In Lissabon spielte er zuerst in der expressionistischen Experimental-Band  O Moeda Noise, bevor sich unter eigener Regie sein charakteristischer Stil weiter verfeinerte, der nicht zuletzt durch die Taschentrompete als “sein” Instrument bestimmt wird. Die vier Stücke des aktuellen Albums entstanden mit dem vertrauten Stamm an Mitmusikern – Fala Mariam (Trombone), Rafael Toral (Modulated Resonance Feedback Circuit), Pedro Lourenço (Bass), César Burago (Percussion). Eingebettet in diese aktuellen Kompositionen sind Fragmente des Jazz, aber in gleichem Maße von elektronischer, Konkreter oder Neuer Musik. Stilmittel der Stille und Auslassung sind in Miguels’ Musik ebenso wichtig wie die gezielte Akzentuierung. Esfíngio ist ein rares Zeugnis einer sinnlichen Kopfmusik. (Clean Feed)

Ripples Oktober 2010

October 1st, 2010

Dolly Mixture -Everything And More

Margaret Thatcher war in den 1980ern in Großbritannien indirekt um die Förderung der Subkultur besorgt. Anstatt einem nicht mehr vorhandenen Fabrikjob nachzujagen, bot sie dem Menschen on the dole die Möglichkeit eines staatlichen Förderungskredits, um damit eine eigene Firma zu gründen, was als Nebenerscheinung zur Folge hatte, dass zahlreiche Musiker ihr eigenes Independent-Label gründeten. Cordelia Records war ein Paradebeispiel. Deren Katalog hatte neben den eigenen Bands für einige Zeit allerhand Obskures zu bieten. Das Fireside – Minialbum von Dolly Mixture, 1986 erschienen, eine leicht melancholische Mischung von Kammer- und Hausmusik, vorgetragen von drei sympathischen, sehr englisch aussehenden jungen Frauen, ist diesbezüglich noch in bester Erinnerung. Aber diese handvoll Songs sollten schon den Schlußpunkt der ‘Karriere’ dieser weitgehend undokumentiert gebliebenen Band bilden.

Read the rest of this entry »

Ripples September 2010

September 17th, 2010

Dean & Britta – 13 Most Beautiful Songs


Andy Warhols Screen Tests, ein enzyklopädisches Ausmaß von 472 monochromen Filmportraits umfassendes Projekt, das zwischen 1964-66 entstand, ist ein Namedropping der Sixties-Avantgarde und bis heute an Coolness nicht zu überbieten. Die Hauptspielregeln Warhols für die vorgegebenen vier Minuten  – direkt in die Kamera zu schauen – wird von Ann Buchanan am konsequentesten und berührendsten umgesetzt – sie schaut ohne zu blinzeln, Tränen rollen erst aus ihrem  linken Auge, dann auch aus dem rechten. Edie Sedgwick, Mary Woronov, Paul America, Billy Name, Freddy Herko, Ingrid Superstar, Susan Bottomly, Jane Holzer, Richard Rheem, Dennis Hopper, Lou Reed und Nico sind die weiteren Filmspulen, die sich Dean Wareham vom Warhol-Museum in Pittsburgh für 13 Most Beautiful – Songs For Andy Warhol’s Screen Tests lieh.
Dean Wareham und Britta Phillips, zuvor beide bei Luna, Wareham auch bei Galaxie 500, also Projekten, die auch schon schwer VU-beeinflusst waren, geben als Duo und auf ihren Platten L’Avventura und Back Numbers eine intellektuelle, referenzgeschulte Version von Jane und Serge oder Bonnie und Clyde (oder umgekehrt). 13 Most Beautiful Songs, also die Vertonung der Filme, passt da perfekt in ihre Vita.
Mit eigenen Stücken und den ausgesuchten Versionen  von I’ll Keep It With Mine, It Don’t Rain in Beverly Hills oder dem VU-Bootleg-Stück Not A Young Man Anymore – klingt die Musik einerseits werksgetreu, aber durch die Zusammenarbeit mit Sonic Boom, der einen elektronischen Abstraktionsfilter bedient, zeitgemäß. All das müsste natürlich am besten live in der Kombination von Bild und Ton erlebt werden, wozu man in den kommenden Wochen dankenswerterweise die Gelegenheit hat.
Deanandbritta.com

Ripples August 2010

August 9th, 2010

Márcia – EP

Márcia ist eine sichere Anwärterin für eine weitere Folge unserer beliebten Serie ‘O Futuro da Saudade’, wenn sich ihr im Herbst erscheinendes Debut-Album in etwa so anhört wie diese EP mit fünf Stücken, die von Optimus Discos herausgegeben wurde (und heruntergeladen werden kann). Eine nicht atypische portugiesische Vita: mit dreizehn Jahren komponieren und eigene Stücke singen begonnen, danach Studium an der ‘Universität der Schönen Künste’ in Lissabon, längerer Paris – Aufenthalt und schließlich Konzentration auf die Musik. Gesang und Gitarre; das läßt an Luna Pena denken, doch Márcias Stücke sind nicht allzu sehr mit dem portugiesischen Liedgut verbandelt. Melancholie? Das dann doch. Ohne die geht es mit einem portugiesischen Pass nicht. Ihre Musik ist, obwohl sie nur mit der Akustikgitarre instrumentiert ist, nicht verhuscht wie die vieler Weird-Folk-Sängerinnen, sondern klingt wie ihr Gesang bestimmt und selbstbewusst. Mit kristallklarem, dunklen Timbre besingt sie in Portugiesisch, Französisch oder Englisch ihre Version über die Irrungen und Wirrungen der Liebe ff. Optimus Discos

.

Television Personalities – A Memory Is Better Than Nothing

My Dark Places, das sogenannte Comeback-Album Dan Treacys nach Drogensucht, Obdachlosigkeit und Gefängnisaufenthalt war trotz der Unterstützung seines alten Weggefährten Edward Ball und einiger guter Ansätze eine kaum zu ertragende Freakshow, zerrissen und den Hörer in die Rolle des Voyeuristen drängend, nicht unähnlich den Platten eines Danies Johntsons, bei dessem Ouevre ich selbiges Unwohlsein empfinde. A Memory Is Better Than Nothing, vier Jahre später und nach einem weiteren Besetzungswechsel, ist wieder völlig anders ausgefallen. Treacy bekam scheinbar wieder Distanz zu seinen eigenen Abgründen und kann Biographie und Kunst trennen, wie wäre sonst die Rückkehr zu früherer Ironie zu erklären? A Memory… hat einige wirklich gute TVP-Stücke in klassischer Manier aufzuweisen: auf den Punkt gebrachte Jingle-Jangle Tunes wie das Titelstück oder She’s My Yoko, exentrisch Arrangiertes wie Funny He Never Married oder verquere Neo-Psychedelica wie wir es von den frühen Alben kennen : People Think That We’re Strange oder The Girl In The Hand Me Down Clothes. Die momentane Verehrung und die Hommagen von jüngeren Musikern für den kommerziell immer unter seinen Möglichkeiten gebliebenen Treacy ist nur angemessen. Selbst erinnern wir uns noch gerne an ein Interview Ende der 80er, als wir einen der unprätensiösesten und sympatischsten Vertreter seiner Zunft trafen. TVP

.

Ignatz – Mort Aux Vaches

Während wir weiter auf Ignatz IV warten wird uns die Zeit mit einem Schmankerl aus dem Hause Staalplaat verkürzt. In der Mort Aux Vaches – Reihe spielte Bram Devens 2005 eine Radio-Session ein, also zu Zeit von Ignatz I (K-raa-k). Zur großen Verwunderung hören wir hier also teilweise Stücke und Variationen vom Debutalbum. Mit ultramorbiden Wüstenmeditationen und versponnener, diesmal fernöstlich anmutender Psychedelica – hier, nicht weit von Ben Chasnys’ überzeugenderen Six Organs Of Admittance – Alben entfernt – zieht  Devens uns ins gelobte Herriman – Land von Krazy Kat und Ignatz. Die Stücke zeigen welch faszinierender Improvisateur Devens ist, weniger hinsichtlich Virtuosität als als Meister der atmosphärischen Verdichtung. Staalplaat

.

Marc Almond – Varieté

Ein Motorradunfall kostete ihm vor einigen Jahren fast das Leben; beim langen Rehaaufenthalt musste er selbst das Singen wieder erlernen. Einige Gastauftritte, z.B. bei Current 93 trugen zur Genesung bei, aber Varieté ist tatsächlich das erste Album mit eigenem Material seit 1999. Die in zahllosen Varianten bemühte Metapher vom tief im Herzen einsamen und traurigen Varietè – Künstler, in verschärfter Ausgabe gar des Clowns, ist zugegeben ein Graus ohnesgleichen. Man darf aber einem Marc Almond zutrauen, hier keine weitere klischierte Version dieses Themas zu bieten, sondern  ein over the top – Kitchen Sink Drama zu konstruieren, das mit Zitaten aus den cineastischen britischen New Wave – Klassikern der Fünfziger und Frühsechziger, einer großen Portion Camp und Verruchtheit aus dem samtenen bzw. ledernden Untergrund aufwartet. Varietè kann sich, was das Songwriting und die Emotionalität anbelang, gar mit seinem opus magnum mit Marc & The Mambas – Torrement and Torreros – messen – wenn auch die exzentrischen Arrangements, die die Handschrift Anni Hogans’ trugen, einzigartig bleiben. Seine wiedererlangte Sangeskunst kam jedenfalls seinen großen Vorbildern  – Jacques Brel, Scott Walker, Lou Reed’s Berlin – , alles Meister des desolaten Chansons und überkanditeltem Pathos –   – noch nie so nahe. Marc Almond

.

Herzfeld Orchestra – Dito

Immer wieder traf man in den letzten Jahren bei Konzerten im Elsass im Vorprogramm auf die Projekte des Straßburger Labels, das sich nach dem deutschen Namen des Montagekünstler benannt hat: Original Folks, Buggy, Einkaufen, Little Red Lauter, A Second Of June, Marxer, Guisberg etc. Das Herzfeld Orchestra vereint zwanzig Musiker des Labels, die alle ihre Beiträge zu den zwölf Songs des Albums beitrugen. Livepremiere hatte das Projekt in der Stadt der “1000 Schornsteine”, Mulhouse; die Ausrichtung des Labels ist aber eher in den Weiten Amerikas und, als Gegenstück, im verregneten Teil Schottlands verortet. Alternative Folk im weitestens Sinn also, dazu lassen sich auch direkte Liebesbezeugungen an verdiente Größen, die auch schon auf der Suche nach dem perfekten Popsong waren wie Edwyn Collins, den Reid-Brüder oder gar noch älteren “Sunglasses After Dark”- Trägern heraushören. Hrzfld

.

Reines D’Angleterre – Les Comores

Wenn auf den Inseln im Indischen Ozean die folkloristische Musik so klänge, wäre das durchaus besorgniserregend, denn solch intensive Teufelsaustreibung ist auf Dauer der Gesundheit wohl abkömmlich.  Aber die Protagonisten der Reines D’Inglaterre wandeln ja auf europäischem Grund, und hier ist man traditionellerweise schon an vergleichbare Zeremonienmeister und Exzentriker gewohnt.
él-g, mittlerweile in Brüssel residierender Pariser mit großem musikalischem Output, ist durch seine (Kraak)- LP Tout Ploie noch im Gedächnis. Eine halluzinatorische Chansonplatte, die ihren Vorbildern in Free Style- Manier auf den Pelz rückt. Opéra Mort, das post-industrial – Duo mit Jo, ist auch Bestandteil der RDA. Tazartès’ epochale Frühwerke, die mit dem damals noch nicht existenten Genre World Music ähnlich radikal verfuhren, suchen nach wie vor ihressgleichen. Seine Quellen entstammen sowohl aus elektronischem und konventionellem Fundus. Tazartès Markenzeichen – ein sämtliche Konventionen sprengender Gesangsstil, eine nicht einzuordnende Mèlange aus jiddischem, nordafrikanischem und der Phantasie entsprungemem babylonischem Sprachgewirr, die aus der Hörspieltechnik und der Filmvertonung entliehene Technik der rasanten Schnitte sind hier alle präsent.  Seit geraumer Zeit gab es von ihm keine dokumentierte Musik mehr. Les Comores wurde schon live an ausgesuchten Orten getestet; das Album ist genau so ausgefallen wie die Summe aus den einzelnen Komponenten: Collagenhafte, noisige, rituelle Klangkonstrukte, die manchmal an die frühen Zoviet France erinnern, aber durch die emotionalen Ausbrüche Chédalia Tazartès auf eine transzendente Ebene gehievt werden. Boweavil Recordings

Christy & Emily – Little World

Christy Edward und Emily Manzo sind so etwas wie das willkommene ästhetische Gegenstück zum hippieesken, regressiven Folk-Rock-Revival – dieses Attribut teilen sie höchstens noch  mit dem französichen Art-Punk-Chanson Duo Mansfield TYA aka Julia Lanoe und Carla Pallone.
Obwohl, es ihnen auf den ersten Blick nicht leichtfallen würde, sich entsprechend zu distanzieren – zwei junge Frauen, die zusammen musizierend auf internationalen Bühnen zuhause sind – verfolgen sie mit ihrer Musik nicht die Verbrüderung mit dem Publikum, pflegen die stilleren, introspektiveren – und auf ihre subtile Weise die experimentelleren – Formen des musikalischen Ausdrucks.

Read the rest of this entry »